© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Pankraz,
die Vergeßlichkeit und das Geheimnis

Das Recht auf Vergessenwerden gilt nur innerhalb  der EU“ – dieser Satz verdient es, in die Geschichte einzugehen. Der Europäische Gerichtshof verkündete ihn vorige Woche als Freispruch für die Internetfirma Google, die bezichtigt wurde, gewisse Links zu verbreiten, die laut EU-Recht verboten seien, also gelöscht und ins Vergessen gerückt werden müßten. Das internationale Unternehmen Google, so die Luxemburger Gesetzeshüter, müsse die Links jedoch nur in Europa löschen, weltweit dürften die Informationen aber weiter verbreitet werden.

Gibt es denn aber überhaupt ein Recht auf Vergessen? Bezeichnet das Wort nicht einen natürlichen, naturgegebenen Vorgang, der jeder Rechtlichkeit entzogen ist. Für die moderne Medizin ist er mit Worten wie „Demenz“ und „Alzheimer“ verbunden, also mit Zuständen, die mit allen Mitteln bekämpft, abgeschafft oder zumindest hinausgeschoben werden müssen. „Vergeßlichkeit“ ist in erster Linie eine Alterskrankheit, und es gibt inzwischen eine ganze Skala von diversen Methoden und Trainingsprogrammen, um ihr zu entkommen und so für den Lebensalltag tauglich zu bleiben.

Trotzdem gab es von Anfang an eine zweite, gleichsam politische Bedeutungslage für das Wort „Vergessen“: nämlich die schon im Altertum bekannte (und fleißig praktizierte) „damnatio memoriae“, also das bewußte Verschweigen gewisser, als ausgesprochen negativ und verhängnisvoll empfundener Erinnerungen. Mächtige Herrscher, die das Treiben von großen, letztlich aber besiegten Feinden oder Konkurrenten vergessen machen wollten,  sprachen mit schweren Strafen verbundene  Sprechverbote über diese Gestalten aus. Das Vergessen sollte so über Generationen hinweg regelrecht eingeübt werden.


Natürlich betraf das vorgeschriebene, angeblich spontane „Vergessenwollen“ in erster Linie die Geschichtsschreiber, die nun nicht mehr den eigenen, durch genaue Faktentreue befestigten Blick auf die Ereignisse riskieren konnten. Glatte Lügen, bloße Propagandasprüche, „Fake News“ traten nun immer häufiger an die Stelle biederer Wahrheitssuche, doch wirklich vergessen im Sinne des biologischen Abhandenkommens konkreter Erinnerung passiert nicht. Statt eines „Rechts auf Vergessen“ regiert lediglich eine behördliche Pflicht auf Vergessen, an die sich alle zu halten haben.

Indes, weder individuelles noch kollektives Erinnern und Vergessen können von irgendwem vorgeschrieben werden, es sind natürliche Vorgänge, die zum Menschen dazugehören wie Herz und Lunge. Aus Gründen persönlicher Sicherheit oder aus Karrieregründen kann man der Öffentlichkeit gegenüber so tun, als habe man vergessen, doch sich selbst gegenüber ist das nicht möglich. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Natürliches Vergessen gibt es nur als Krankheit oder aus Altersgründen. In der Politik kann man immer nur so tun, als habe man vergessen oder könne nicht vergessen.

Wie steht es dann also mit dem „Recht auf Vergessen“, das heute von vielen Seiten so emphatisch eingefordert wird? Ist es vielleicht nur ein Wiederaufwärmenwollen der alten „damnatio memoriae“? Soll es etwa Gesetz werden, alles totzuschweigen und sogar aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, was den aktuel herrschenden Gewalten inklusive Zeitgeist und Massengeschmack nicht in den Kram paßt? Das wäre fatal. Die Erinnerung an die Vergangenheit würde buchstablich eliminiert, die Erwartung an die Zukunft auf irgendwelche kindliche Verewigungsträume der Gegenwart reduziert.

Wie jede fundamentalistische Attitüde jagt ja auch der ökologische Radikalismus vielen echten Kultur- wie Naturliebhabern einigen Schrecken ein, aber man kann andererseits nicht leugnen, daß er in manchem recht hat, gerade was Erinnerung und Vergessen betrifft. Man darf zum Beispiel, findet Pankraz, danach fragen, ob es wirklich Sinn macht, wenn gewisse Wissenschaftsdisziplinen zu immer „neuen Ufern“ aufbrechen, nur um letztlich müßige, billigste Neugier zu befriedigen.

 

Zweifellos wäre es würdiger und menschengemäßer, aufgegrabene Königsgräber nach Fotografieren und Katalogisieren ihrer Bestände wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen und zu verschließen. Pankraz fand es jedenfalls sehr in Ordnung, als einige Indianerhäuplinge die in einem kalifornischen Museum ausgestellten Mumien ihrer Stammesahnen zurückforderten (und auch zurückbekamen), um sie „in geweihter Erde“ wiederzubestatten. Sie fanden eben, daß eine solche Rückbestattung der unvergeßlichen Erinnerung an sie besser sei als leeres Anstarren im Museum.

Es geht vielerorts nicht um ein vages Recht auf Vergessen, sondern um ein höchst konkretes Recht auf das Neuaufrichten von Geheimnissen. Wer soll diese Geheimnisse in Zukunft behüten, wer vor der Neugier schützen? Für den hier sehr zuständigen Philosophen Ludwig Klages (1872–1956) war die Frage leicht zu beantworten, denn er war erklärter Aristokrat, Mitglied des George-Kreises, der die Masse verachtete und sich ohne weiteres die staatliche Privilegierung eines kleinen, ausgewählten Kreises von „Wissenden“ vorstellen konnte. Wir Heutigen hingegen wagen nicht einmal mehr, uns wenigstens innerlich für Aristokraten zu halten!

Außerdem haben wir (nicht zuletzt die „Ostdeutschen“) eindeutig schlechte Erfahrungen mit angemaßten Geheimnisträgern und Sekretierungsspezialisten gemacht, bis hin zu biederen Ex-Konsistorialräten, die sich zu DDR-Zeiten zu konspirativen Stasitreffs einladen und als IM registrieren ließen. Läßt sich unter solchen Umständen überhaupt noch ein Geheimnis hüten, und sei es das edelste? 

Kurt Kister, der in der Süddeutschen Zeitung über das Google-Urteil berichtete, meinte dazu herablassend:  „Die Vorstellung, man könne in der digitalisierten Welt das ‘Vergessenwerden’ per Gerichtsbeschluß erzwingen, hat eine magische Komponente.“ Dazu ganz kurz: Geheimnishüter sind keine Magier. Gerichte auch nicht, sollte man hinzufügen.