© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Böse banalisiert
An der Nordseeküste: Christian Schwochows Neuverfilmung der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz kann nicht überzeugen
Dietmar Mehrens

Man könnte ihn den kleinen, besser erzogenen Bruder der „Blechtrommel“ nennen: den Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, 1968 erschienen. Der exzentrische Blechtrommler ist ein Freund der schrillen Töne und der grellen Überzeichnungen; mild-ironisch und selbst noch in der Schilderung menschlicher Dramen hanseatischkühl und bodenständig bleibt dagegen Siggi Jepsen, das erinnernde Ich der „Deutschstunde“.

Er hält auch nicht wie Oskar Matzerath als Insasse einer „Heil- und Pflegeanstalt“ Rückschau auf die hinter ihm liegenden Lebensjahre, von denen die wichtigsten Kriegsjahre sind; ihn hat man, weil er nicht so ein Filou ist wie Oskar, in eine Besserungsanstalt für schwererziehbare Jugendliche gesteckt. Dort ist Siggi eine Strafarbeit zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ aufgebrummt worden. In der Deutschstunde war das Papier leer geblieben, denn zu dem Aufsatzthema war dem Zwanzigjährigen einfach zu viel auf einmal eingefallen. Vor allem der eigene Vater fiel ihm ein, der es als Landpolizist von Rugbüll an der Nordseeküste mit den Pflichten, auch bei nüchternster Betrachtung, ein wenig zu genau nahm. Und nun schreibt er, schreibt und erzählt mit einer Naivität, die viel Freiraum für Ironie bietet, vor allem von dem Zerwürfnis zwischen seinem Vater Jens Ole Jepsen und dessen langjährigem Freund, dem Maler Max Ludwig Nansen, dem der Polizist 1944 als Vertreter der staatlichen Autorität ein Malverbot erteilen und dessen Einhaltung auch überwachen muß.

Während die meisten anderen Dorfbewohner auf die zunehmend absurder wirkenden Anordnungen aus Berlin – vor allem so kurz vor Kriegsende – lieber mit nordfriesischer Nonchalance reagieren, beharrt der Dorfpolizist auf strikter Einhaltung der Vorgaben. Er erweist sich damit als idealer Adept der herrschenden Ideologie und exzellenter Erfüllungsgehilfe des totalitären Regimes, dem er den Weg bereitet hat. Er ist ein Musterbeispiel für das, was Hannah Arendt die Banalität des Bösen nannte. Selbst den eigenen Sohn, Siggis großen Bruder Klaas, läßt der Polizeibeamte lieber von den Mühlen des Systems zermahlen als sich dessen Fragwürdigkeit einzugestehen. Klaas nämlich, von der ihm auferlegten Pflicht, dem Kriegsdienst, weit weniger überzeugt als der Vater, hat sich selbst verstümmelt und sucht nun Zuflucht ausgerechnet bei Nansen. Bei einem Luftangriff wird Klaas schwer verletzt. Den ohnehin schon schwelenden Konflikt zwischen den einstigen Freunden heizt das Drama um Klaas weiter an.

Zwischen die verhärteten Fronten geraten auch der elfjährige Siggi (Levi Eisenblätter) und seine Schwester Hilke (Maria Dragus) , denn beide fühlen sich dem Maler freundschaftlich verbunden. Vor allem Siggi fällt es schwer, die Solidarität gegenüber Nansen und das Interesse an dessen Malerei mit seinen Pflichten als Sohn in Einklang zu bringen.

Wie aus der Erinnerung  neu geschrieben

Lenz zeigt in seinem erfolgreichsten Roman eindrucksvoll: Immer dort, wo Ideologie das gesamte Denken vereinnahmt, wo ihr selbst der Platz freigeräumt wird, an dem in normalen Gehirnen der gesunde Menschenverstand sitzt, droht Gefahr für das menschliche Zusammenleben. Jepsens Entscheidung, sich der ideologiegetriebenen Doktrin seiner Zeit auf Gedeih und Verderb auszuliefern, sorgt nicht nur für Spaltungen innerhalb der Dorfgemeinschaft, sie bedroht auch die eigene Familie. Am Ende ist selbst Siggi, der Jüngste, seinem Vater völlig entfremdet.

Christian Schwochows filmische Umsetzung des Stoffes wirkt so, als hätte er den Roman vor zehn Jahren gelesen, aufgeschrieben, was ihm davon in Erinnerung geblieben ist, alle Erinnerungslücken mit viel Phantasie gestopft und das Ganze dann verfilmt. Der Film ist plakativer als die Vorlage und hat einen völlig anderen Ton: Schwochow und seine Mutter (die das Drehbuch schrieb) verzichten komplett auf Humor und Ironie, diese so wichtigen Zutaten nahezu aller Prosawerke des vor fünf Jahren, im Oktober 2014, verstorbenen Autors. Als hätten sie nicht die Stimmung der Vorlage, sondern von Theodor Storms Husum-Hommage („graue Stadt am Meer“) einfangen wollen, so wirken die vielen langen Aufnahmen von Wattenmeer und Dünen. Eine künstlerische Entscheidung, die nicht jedem Lenz-Leser gefallen wird.

Daß sich Raffungen und Kondensierungen zwangsläufig ergeben, wenn ein 500-Seiten-Opus auf zwei Stunden Film verdichtet werden muß, versteht sich von selbst. Der Regisseur läßt vieles weg – das letzte Fünftel des Buches fehlt fast vollständig – und erfindet einiges neu hinzu. Dabei setzt er bewußt eigene Akzente und liefert eine durchaus eigenwillige Werkinterpretation. Eine Erfindung Schwochows ist etwa Siggis morbide Lust am Sammeln toter Tiere.

Lenz wollte keine einfachen Antworten

Vor allem ist es aber das Bild der Hauptfigur, des Dorfpolizisten Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen), das Inkongruenzen gegenüber der Vorlage erkennen läßt: Schwochow zeichnet Jepsen als Menschen, der rückhaltlos vom Bösen überwunden wird, der zum Monstrum degeneriert. Damit schüttet er Interpretationsspielräume zu, die die Vorlage zuläßt. Am besten verdeutlicht dies die Verfremdung des Kapitels „Unterm Brennglas“, in dem die verstorbene Ehefrau des Malers Nansen (Tobias Moretti) zu Grabe getragen wird. Im Roman läßt sich Jepsen von seinem Schwiegervater überreden, an der Beerdigung teilzunehmen, im Film bleibt er hart und unversöhnlich. Wenn er sich im Anschluß an die Beerdigung schließlich doch noch blicken läßt, dann nur, um die Kaffeetafel mit einem Volkssturm-Befehl zu sprengen und seinen geschmacklosen Auftritt darin gipfeln zu lassen, daß er den wie immer renitenten Maler mit einer Pistole bedroht.

Diese theatralische Zuspitzung offenbart, daß die Filmautoren an Nuancierung und Differenzierung kein Interesse hatten. Sie radieren diese zugunsten eines klaren Schwarzweißkontrasts einfach weg. Sie reduzieren nicht nur, sie banalisieren. Im Interview erklärt Christian Schwochow seine Herangehensweise mit der Aktualität des Stoffes: „Antisemitismus, Ausgrenzung und Abgrenzung gewinnen eine gewisse Salonfähigkeit, auch in der deutschen Gesellschaft nehmen antidemokratisches Denken und Fühlen zu.“ Die einfachen Antworten, die klaren Zuordnungen sind aber das, was Lenz gerade nicht wollte. Sein Fokus war weiter. Der Roman antizipiert, im Kapitel „Besuche“, das der Film wegläßt, sogar den repressiven Linksfaschismus innerhalb der Studentenbewegung von 1968. Der scheint inzwischen – Diskursbeschränkungen und Boykotte belegen dies (JF 17/19) – an vielen deutschen Universitäten gleichsam zur Leitkultur geworden zu sein. Ob Christian und Heide Schwochow in ihrer Sorge um die Demokratie auch daran gedacht haben?

Aus einem Buch, das die Banalität des Bösen exemplifiziert, haben sie einen banalen Film gemacht. Insofern ist diese „Deutschstunde“ keine Sternstunde der Filmkunst. Als Versuch der Annäherung an einen Klassiker der Nachkriegsliteratur, den viele nicht mehr kennen, und als Deutungsversuch mit eigener Bildsprache ist das Werk gleichwohl annehmbar. Wer jedoch die ganze Wahrheit über Jens Ole Jepsen und Max Ludwig Nansen wissen will, der muß Lenz lesen.