© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

„Alles muß demokratisch aussehen“
Deutsche Teilung: Die erste Verfassung der DDR war ein Gegenentwurf zum Grundgesetz
Lothar Karschny

Als sich in den Abendstunden des 8. Mai 1949 die Beratungen des Parlamentarischen Rates in die Länge zogen, drängte Konrad Adenauer zur Eile. Adenauer wollte das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland unbedingt vor Mitternacht verabschieden und damit ein Zeichen setzen. Der 8. Mai 1945 stand für den Tag, an dem Deutschland seine staatliche Handlungsfähigkeit verloren hatte. Der 8. Mai 1949 sollte ein Neuanfang sein. Der erste Schritt auf einem Weg der Befreiung, durch den Deutschland seine Selbstbestimmung und Freiheit wiedererlangen sollte. So die Hoffnung. 

Die Stimmung war ernst und feierlich, als um 23.55 Uhr die letzte Abstimmung beendet war.  Die Parlamentarier erhoben sich und stimmten ein patriotisches Feierlied an, „Ich hab mich ergeben“ – ein Lied, das von dem Geiste zeugte, der ihrem Werk zugrunde lag. 

Die Kehrseite dieses 8. Mai war allen bewußt: das Grundgesetz bedeutete Teilung. Von nun an gab es zweimal Deutschland, bald auch zwei Verfassungen. Die Verfassung der DDR erblickte am 7. Oktober das Licht der Welt. Auch hier offenbarte das historische Datum, der Jahrestag der Oktoberrevolution, wes Geistes Kind die Väter waren.

Die Kommunisten hatten Kreide gefressen  

Die Verfassung der DDR war der Gegenentwurf des Ostens, sie war Ebenbild und Antithese zugleich. In Form und Wortwahl schien sie frappierend ähnlich, ja präsentierte sich sogar als die eher demokratische Alternative. Ein Anspruch, der sich bald als trügerisch erwies.

Natürlich war die Verfassung der DDR ebenso durch die Siegermacht inspiriert wie das Grundgesetz. Während der US-Geheimdienst OSS mit marxistisch geprägten deutschen Emigranten seine Pläne für die Bundesrepublik entwarf, konnte die Sowjetunion auf ihre KPD-Emigranten zurückgreifen, die im Moskauer Exil Linientreue gelernt hatten.

Während sich die US-Politik zur Sicherung der Freiheit – und ihrer Interessen – schon früh auf die Teilung Deutschlands vorbereitete, wollte die sowjetische Führung die „imperialistische Landnahme der USA“ verhindern und die Einheit Deutschlands erhalten. Ein neutrales Deutschland schien ihr nützlicher als ein geteiltes. Um die Zustimmung aller Deutschen zu gewinnen, propagierte die SED ab 1946 eine Verfassung, in der freie und geheime Wahlen, freiheitliche Grundrechte, Zweikammersystem und föderale Gliederung verankert sein sollten.

Schon das erste Programm der neu gegründeten KPD zeugte von dieser erstaunlichen Wende. Die Idee, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“, wurde als Irrweg verworfen. Ziel war die „Errichtung einer parlamentarisch-demokratischen Republik“. Das Wort „Sozialismus“ kam nicht mehr vor, stattdessen war von der „völlig ungehinderten Entfaltung der unternehmerischen Initiative auf der Grundlage des Privateigentums“ die Rede. Die Kommunisten hatten offenbar Kreide gefressen. 

Die Sozialdemokraten dagegen blieben ihrer radikalen Diktion treu. Sie forderten „Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft“, umfangreiche Verstaatlichungen und die „Einheit der deutschen Arbeiterklasse“. Die SPD zeigte sich personell und ideologisch zerrissen und bahnte damit den Weg zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, in der am Ende die KPD-Kader das Sagen hatten.

Am Anfang machte die SED die Forderung nach staatlicher Einheit und freien Wahlen zu ihrem Hauptziel und profilierte sich als Partei einer Einheit, die mehr national als sozialistisch wirkte. Damit gewann sie die Landtagswahlen im Oktober 1946.

Auf Betreiben der SED trat am 6. Dezember 1947 ein „Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden“ zusammen. 2215 Landespolitiker aus allen vier Besatzungszonen kamen in Berlin zusammen (664 davon aus dem Westen), um eine verfassunggebende Nationalversammlung vorzubereiten. Als die CDU die Teilnahme ablehnte, wurde ihre Führung von den Sowjets des Amtes enthoben. Vielen war bewußt: Der Parteienstreit war eine demokratische Fassade, Zehntausende saßen in Lagern. Dennoch begriff die große Mehrheit der Delegierten den Kongreß als Chance, frei ihren Willen zum Ausdruck zu bringen. Und der war eindeutig. Man wollte ein geeintes demokratisches Deutschland. Mit anderen Worten: eine „deutsche demokratische Republik“. 

Was Demokratie war, darüber hatten die Kader der KPD ihre eigenen Vorstellungen. „Alles muß demokratisch aussehen, aber wir müssen die Kontrolle behalten.“ So formulierte es Walter Ulbricht und ließ die Demokaten erstmal gewähren.  

Am 18. März 1948, genau hundert Jahre nach der Märzrevolution 1848, wählte der Volkskongreß einen „Deutschen Volksrat“, der aus 400  Abgeordneten bestand. 152 waren direkte Vertreter der SED, 100 kamen aus dem Westen. Der Volksrat wurde organisatorisch dem Reichstag nachgebildet, bildete Ausschüsse und nahm sofort die Arbeit an einer Verfassung auf. 

Er stand unter Zugzwang, denn die westlichen Pläne zur Teilung nahmen Anfang 1948 konkrete Formen an. Eine „Sechs-Mächte“-Konferenz der Westmächte mit den drei Benelux-Staaten beriet in London über die Organisation des Besatzungsgebietes. Auch hier ging es um Kontrolle. Die Westzonen sollten formal demokratisch organisiert werden, die Besatzungsmächte aber die Kontrolle behalten. Der Volksrat wandte sich gegen die Teilung, eine Protest-Delegation wurde nach London geschickt, aber schon an der Zonengrenze festgehalten. Auch eine von ihm geplante Volksabstimmung scheiterte. 

Der 20. Juni 1948 bringt die entscheidende Wende. Die Westmächte schaffen vollendete Tatsachen. Die Einführung der D-Mark, die schon 1947 heimlich in den USA gedruckt worden war, beginnt die wirtschaftliche Spaltung. Währungsturbulenzen um Berlin lösen die Blockade Berlins aus, die Gegenblockade des Westens gegen die SBZ folgt. Ende Juni ist die Lage angespannt, die Militärs bringen ihre Panzer in Stellung, die Bevölkerung ist mit dem neuen Geld beschäftigt.

Widerstand gegen die Pläne der Westalliierten

In dieser Situation unternehmen die alliierten Militärgouverneure ihren Vorstoß für die Schaffung eines westdeutschen Staates. Am 1. Juli 1948 übergeben sie den Ministerpräsidenten die sogenannten „Frankfurter Dokumente“ und erteilen ihnen die Weisung, eine Verfassung auszuarbeiten. Sie sollen binnen zwei Monaten mit der Arbeit beginnen, als Frist wird der 1. September 1948 bestimmt.

Der Historiker Henning Köhler spricht in diesem Zusammenhang von einem ungewöhnlichen Akt. In der Geschichte der Staaten sei es bisher nicht vorgekommen, daß jemals eine Besatzungsmacht den Besetzten den schroffen Befehl gegeben habe, „gefälligst einen Staat zu gründen“. 

Die Pläne zur Staatsgründung treffen in der deutschen Öffentlichkeit auf einhellige Ablehnung. Viele vermuten die böse Absicht, das Deutsche Reich zu zerschlagen und ein Marionettenregime im Dienste der Sieger zu errichten. Die Ministerpräsidenten lehnen die Frankfurter Dokumente ab, zu jedem der Dokumente formulieren sie Gegenvorschläge. Auch das beabsichtigte Besatzungsstatut weisen sie zurück. Sie wollen alles vermeiden, „was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde“. Im Hintergrund steht die Befürchtung, beide Teile Deutschlands könnten in einen Krieg gegeneinander verwickelt und am Ende ausgelöscht werden. Die Bestrafungspläne der Kriegszeit sind zwar verworfen worden, mit der Teilung aber wird eine neue Bedrohung sichtbar. Eine existentielle Gefährdung, die Deutschland in eine weltpolitische Geiselhaft zwingt.

Der deutsche Widerstand gegen ihre Pläne wird von den Westalliierten als Affront betrachtet, bei den erneuten Treffen herrscht eine eisige Atmosphäre. US-Militärgouverneur Lucius D. Clay führt den Besiegten unmißverständlich vor Augen, was ihre Weigerung bedeutet: das Fortbestehen einer absoluten Fremdherrschaft, die bisher Hunger, Demontage und wirtschaftliche Verelendung bedeutete. 

Die Annahme der alliierten Vorschläge dagegen bietet die Chance, zumindest einen Teil des staatlichen Lebens wieder in die eigene Hand zu nehmen. Eine freie Wahl gibt es unter diesen Umständen nicht. Die Ministerpräsidenten geben dem alliierten Druck nach. Diese „Wende im Westen“ vollzieht sich im Juli 1948. Die Teilung wird angenommen.

Dennoch kann der deutsche Widerstand einen Erfolg verbuchen. Die deutschen Vertreter erreichen, daß sie keine vollwertige Verfassung entwerfen müssen, sondern ein Grundgesetz für ein Provisorium. Carlo Schmid kennzeichnet dieses Grundgesetz in seiner berühmten Rede vom 8. September 1948 als „Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft“. Das Grundgesetz erhebt die schrittweise Befreiung Deutschlands von Fremdherrschaft und Teilung zum Staatsziel. Diesem Ziel ist die frühe Bundesrepublik treu geblieben. Mit der Wiedervereinigung von 1990 hat das Grundgesetz diese ihm zugedachte Aufgabe erfüllt. Es hat dazu beigetragen, Deutschland aus einer gefährlichen Lage zu befreien, in die es 1949 durch die Teilung geraten ist. 

Freund-Feind-Denken verfestigt sich

Mit der „Wende im Westen“, also der Zustimmung zur Gründung eines Weststaates, wird die Arbeit des Volksrates im Osten zu einem Kampf für die Einheit. Schon Anfang November 1948 legt der Volksrat einen Verfassungsentwurf vor. Dieser wird in Rundfunk und Zeitungen veröffentlicht und an alle Personen des öffentlichen Lebens verschickt. Die Bürger werden aufgefordert, die Entwürfe zu studieren, zu diskutieren und Verbesserungsvorschläge einzureichen.

Tatsächlich gehen etwa 15.000 Änderungswünsche ein, werden gesichtet und bearbeitet, zahlreiche Artikel werden – wenn auch nur geringfügig – überarbeitet.

Während in Bonn der Parlamentarische Rat hinter verschlossenen Türen und unter Überwachung durch alliierte Verbindungsoffiziere über ein Grundgesetz verhandelt, verabschiedet der Deutsche Volksrat am 19. März 1949 seinen Verfassungsentwurf. Anschließend übermittelt er diesen dem Parlamentarischen Rat, fordert ihn auf, den Entwurf zu prüfen und über eine gesamtdeutsche Verfassung gemeinsam zu beraten. 

Die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates schlagen das Angebot aus. Der Volksrat sei nicht demokratisch legitimiert, heißt es offiziell. Im Hintergrund hat sich ein einfaches Freund-Feind-Denken verfestigt, das keine offene Debatte mehr möglich macht: Der Volksrat ist der verlängerte Arm der furchtbaren Sowjetunion, vor der nur das gute Amerika Schutz bieten kann. 

Am 8. Mai 1949 wird, in der eingangs erwähnten nächtlichen Sitzung  des Parlamentarischen Rates, das Grundgesetz verabschiedet. Die Tür zur Einheit ist damit zugeschlagen. 

Die Sowjetunion zögert noch Monate mit der Gründung eines zweiten deutschen Staates. Ungeduldig reisen die SED-Genossen nach Moskau, warten 13 Tage, werden nicht empfangen, kehren ratlos zurück. Erst Ende September erhalten sie grünes Licht für ihre Staatsgründung. Am 7. Oktober 1949 wird die „Deutsche Demokratische Republik“ gegründet, mit ihr tritt die Verfassung der DDR in Kraft. 

Diese Verfassung ist ein Gegenentwurf zum Grundgesetz. Sie ist im Wechselspiel mit dem Grundgesetz entstanden, sie offenbart auch seine Vorzüge und seine Mängel. 

Die DDR-Verfassung ist in einem Verfahren geschaffen worden, das sich viele Deutsche für ganz Deutschland gewünscht hätten. Sie ist dem Wortlaut nach eine freiheitlich-demokratische Verfassung, wie das Grundgesetz verspricht sie Grundfreiheiten und  Grundrechte.

Aber das Versprechen der Freiheit wird im realen Leben nicht eingehalten. Die DDR-Verfassung ist ein Musterbeispiel für eine politisch gewollte Täuschung, dafür wie schön klingende Worte in ihrem Sinn entstellt und gute Absichten in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ein mahnendes Beispiel dafür, wie eine zentrale Nomenklatura die begrifflichen Grundlagen von Demokratie, Freiheit und Volk aushöhlen und wie ein allgegenwärtiger Überwachungsapparat die freie Rede zum Verstummen bringen kann.

Die Lehre daraus ist einfach: Maßstab für den Wert einer Verfassung ist nicht der Verfassungstext, sondern allein die Verfassungswirklichkeit. Daß „alles nur demokratisch aussieht“, reicht nicht aus.