© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Ländersache: Nordrhein-Westfalen
Den Kopf frei kriegen
Paul Leonhard

Bei Gericht gelten besonders strenge Neutralitätsanforderungen. So ist es Richtern, Beamten und Rechtsreferendaren untersagt, ihr Gesicht bei Ausübung des Dienstes zu verhüllen. Regelungen, die religiös und weltanschaulich neutrale Kleidung für Richter, Staatsanwälte sowie andere in der Justiz Beschäftigte ausdrücklich vorschreiben, existieren aber nicht. 

Ob dies so bleibt oder künftig geändert werden soll, beschäftigt derzeit die Abgeordneten des Rechtsausschusses im Düsseldorfer Landtag. Die von der schwarz-gelben Landesregierung vorgeschlagene Lösung lautet: Justizbediensteten soll verboten werden, „im Gerichtssaal und bei Ausübung hoheitsrechtlicher Tätigkeiten, bei der mit einer Wahrnehmung durch Dritte zu rechnen ist, religiös oder weltanschaulich konnotierte Kleidung zu tragen“. Das gilt für mündliche und für Hauptverhandlungen sowie Verkündungs-, Orts-, Erörterungs- oder Beweistermine.

Der Gesetzentwurf zur Stärkung religiöser und weltanschaulicher Neutralität der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen umfaßt fünf Paragraphen, fünf Seiten Begründung und wird als kostenneutral dargestellt. Alternativen? Keine. Kirchenvertreter sehen das allerdings ganz anders. Sie haben verfassungsrechtliche Bedenken, da das Gesetz „erheblich in das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ eingreife, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung des Katholischen und des Evangelischen Büros Nordrhein-Westfalen: „Faktisch würde das geplante Gesetz insbesondere kopftuchtragende muslimische Frauen betreffen.“ „Recht sprechen kann man auch mit Kopftuch, Kippa oder Kreuz“, sekundiert Staatsrechtler Hinnerk Wißmann von der Universität Münster, dessen Expertenansicht im Rechtsausschuß des Landtags gehört wurde: „Der Bürgerschaft wie auch der Richterschaft ist die Einsicht zuzumuten, daß in den Reihen der Justiz Menschen mit erkennbar religiöser Identität vertreten sind.“ Werde der vorliegende Entwurf der Koalition Gesetz, würden „im Grunde Berufsverbote verhängt“, argumentiert Wißmann und verweist dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem pauschale Kopftuchverbote verfassungswidrig sind. 

Allerdings hatte bereits in der Diskussion um das Berliner Neutralitätsgesetz mit Wolfgang Bock ein anderer Rechtswissenschaftler darauf verwiesen, daß beim Bundesverfassungsgericht in dieser Frage zwei Senate völlig unterschiedlich argumentieren und entscheiden. 

Bock hatte im Auftrag der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) ein Gutachten erstellt, nach dem „sichtbar getragene religiöse Kleidung im öffentlichen Dienst die Selbstbestimmtheit von Bürgern einschränken“ könne. Bock wies darin detailliert nach, warum es richtig sei, Lehrkräften zu verbieten, an Schulen auffällige, religiös geprägte Kleidungsstücke oder Symbole zu tragen und daß dies weder gegen die Verfassung noch gegen EU-Recht oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verstoße. Ähnlich ging die Diskussion um das Neutralitätsgesetz des Landes Baden-Württemberg aus. Für Experte Wißmann spielt das keine Rolle: „Die notwendige Qualitätssicherung der Justiz zielt auf das, was im Kopf steckt, nicht auf das, was ihn umhüllt.“