© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Schwarz-Grün ohne Mehrheit in Hessen?
Vorwurf der AfD: Landtag müßte einen Sitz mehr haben
Jörg Kürschner

Zum dritten Mal muß eine Landtagsfraktion der AfD den Rechtsweg beschreiten, da die Parlamentarier Benachteiligungen durch das Wahlrecht beklagen. So sind die Ab-geordnetenmandate in Hessen nach Ansicht der Fraktion falsch berechnet worden. Bereits Mitte Dezember hatte die AfD beim Wahlprüfungsgericht Einspruch gegen die Entscheidung des Landeswahlausschusses eingelegt. Die Richter reagierten nicht. „Da das Gericht den Vorgang bis heute nicht bearbeitet hat, geben wir nun eine Pressekonferenz, um das Thema der Öffentlichkeit bekannt zu machen“, zeigte sich der Abgeordnete Klaus Gagel gereizt, der den Einspruch eingelegt hat.

Die Untätigkeit des Wahlprüfungsgerichts mag mit der Brisanz des AfD-Einspruchs erklärt werden. Die hauchdünne Mehrheit der schwarz-gelben Landesregierung von einer Stimme wäre dahin, sollte sich die AfD mit ihrer Rechtsauffassung durchsetzen. Danach müßte der Landtag in Wiesbaden 138 statt der derzeitigen 137 Sitze haben. Erst dann entspreche die Sitzverteilung im Parlament proportional dem Wahlergebnis, wie vom hessischen Wahlgesetz vorgeschrieben. In der Folge würde die AfD ein Mandat mehr erhalten (20 statt 19), und im Landtag entstünde zwischen der Koalition und der Opposition ein Patt von 69:69 Mandaten. Ministerpräsident Volker Bouffier, seit 2010 im Amt, müßte um seinen Posten fürchten. Kürzlich hatte der CDU-Politiker unter Hinweis auf seine Gesundheit einen vorzeitigen Rückzug nicht ausgeschlossen. In Wiesbaden gilt es als wenig wahrscheinlich, daß der Regierungschef bis zum Ende der Wahlperiode im Januar 2024 im Amt bleibt.

Richter hüllen sich in Schweigen

Nach Ansicht der AfD hat der Landeswahlausschuß die Mandate nach einem Verfahren berechnet, das in Hessen nicht gilt. Der Fehler sei bei der Ermittlung der Ausgleichsmandate gemacht worden. Diese stehen Parteien zu, wenn eine andere Partei mehr Direktmandate durch Erststimmen erhält, als ihr eigentlich über das Zweitstimmenergebnis zustehen. Bei der Wahl im Oktober 2018 errang die CDU acht Überhangmandate. Vize-Landeswahlleiter Thomas Lammers argumentierte, das Gremium habe wie bei der Wahl 2009 die Vorschriften über Ausgleichsmandate angewandt. Die anderen Fraktionen äußerten sich nicht zu dem Einspruch der AfD, verwiesen auf das Wahlprüfungsgericht. Nur der FDP-Parlamentarier Jörg-Uwe Hahn nannte das Vorgehen der AfD berechtigt. Fraktionschef Robert Lambrou betonte, die AfD gehe nicht von Absicht, sondern von einem Versehen aus. Trotz aller verbindlichen Worte verlangt die AfD-Fraktion jetzt endlich Klarheit – ein Jahr nach der Landtagswahl. Untermauert wird dies durch eine parlamentarische Anfrage an die Landesregierung. Darin ist von Willkür die Rede, und es werden bereits mögliche Konsequenzen für den Fall einer fehlerhaften Mandatsberechnung thematisiert. „Sind alle Beschlüsse des Hessischen Land-tags sowie seiner Gremien und alle Maßnahmen der zu Unrecht im Amt befindlichen Hessischen Landesregierung nichtig?“ Außerdem hat die Fraktion ein Gutachten zur Frage der Rechtmäßigkeit der Sitzzuteilung in Auftrag gegeben.

Das Wahlprüfungsgericht hüllt sich weiterhin in Schweigen. Zu dem laufenden Verfahren gebe es keine Auskunft, sagte der zuständige Richter Johannes Meister vom Ver-waltungsgerichtshof in Kassel. In Hessen hat nur das Wahlprüfungsgericht die Befugnis, eine Wahl für ungültig zu erklären.

Die Passivität der hessischen Justiz erinnert AfD-Politiker an die Landtagswahl in Sachsen 2014. Der Bautzner AfD-Kreisvorsitzende Arvid Immo Samtleben war seinerzeit von einem Parteitag auf einen sicheren Listenplatz gewählt, später auf Betreiben des Vorstands um Landeschefin Frauke Petry wieder von der Liste gestrichen worden. Dagegen legte er Beschwerde beim Landeswahlausschuß ein. Vergeblich. Mehr als dreieinhalb Jahre später, im April 2018, rügte der Sächsische Verfassungsgerichtshof die Streichung als Wahlfehler, die der Landeswahlausschuß nicht hätte diese berücksichtigen dürfen. Ungültig sei die Wahl aber nicht, da der Fehler nicht „erheblich“ genug sei.

Fünf Jahre später zogen die Richter aber die Notbremse. Die Juristen korrigierten die Entscheidung des Landeswahlausschusses, der wegen angeblicher Formfehler nur 18 von 61 Kandidaten der AfD-Liste zur Landtagswahl am 1. September zugelassen hatte. Es drohe ein „Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht“, der zu landesweiten Neuwahlen führen könne, befürchteten die Richter. Statt 18 durften 30 Kandidaten an den Start.

Mit gemischten Gefühlen hatte die AfD auch die Bürgerschaftswahl in Bremen 2015 verfolgt. Zwar mußte das Endergebnis auch nach mehreren Auszählungen nicht korrigiert werden, doch kamen dabei haarsträubende Unregelmäßigkeiten heraus. So wurde bekannt, daß im wesentlichen 560 Schüler zwischen 16 und 18 Jahren ausgezählt hatten. Dabei zeigte sich, daß in mehreren Fällen Kreuze für die AfD anderen Parteien zugeordnet wurden. Es könne passieren, daß Wahlhelfer beim Eintragen von Stimmen in den Auszählungscomputer „in die falsche Spalte geraten“, meinten die Richter lapidar. Das Mißtrauen der AfD fußte wesentlich auf Unregelmäßigkeiten bei der Bürgerschaftswahl 2007. Erst durch die Anordnung einer Teil-Neuwahl des Staatsgerichtshofs konnte der Kandidat der rechtskonservativen „Bürger in Wut“ (BIW), Jan Timke, sein Bürgerschaftsmandat wahrnehmen.