© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Immer weiter nach Europa
Über die Ostmittelmeerroute durch die Ägäis kommen wieder die meisten Immigranten: Neue Masseneinwanderung läuft geräuschlos im verborgenen ab / Viele Afrikaner
Hinrich Rohbohm

Die Eskalation kam mit Ansage. Monatelang waren immer neue Migranten auf die griechischen Inseln Kos, Chios, Lesbos, Samos und Rhodos gekommen. Die Kapazitäten der dortigen Aufnahmelager: hoffnungslos überfüllt. Jetzt gibt es in Moria, dem auf Lesbos gelegenen größten Hotspot nahe dem türkischen Festland, die ersten Toten zu beklagen. Bei einem dort von Migranten gelegten Feuer sind eine Frau und ein Kind in den Flammen ums Leben gekommen. Ein weiteres Feuer hatten Migranten im neben dem Auffanglager befindlichen provisorischen Zeltlager „Olive Grove“ gelegt. Feuerwehrleute wurden während der Löscharbeiten mit Steinen beworfen, die Emotionen kochen hoch.

Keinen Zutritt ins Camp  und: „Keine Fotos mehr“

3.000 Plätze faßt das Aufnahmelager von Moria. Doch die Zuwanderung ist im vergangenen Sommer erneut drastisch angestiegen. Das, was sich nach den Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht wiederholen dürfe, wiederholt sich gerade einmal mehr. Und während so mancher deutsche Politiker davon spricht, daß die Zuwanderungskrise vorbei sei, leben im Lager von Moria mittlerweile 14.000 Menschen. Das ist mehr als das Vierfache der Aufnahmekapazität. In den Brennpunkten auf den anderen Inseln sieht es ähnlich aus.

Wie konnte es zu diesen Zuständen kommen? Und warum sind die dramatischen Zunahmen der Migrantenzahlen im Verlauf des vergangenen Sommers so wenig in der Öffentlichkeit thematisiert worden? Eine von vielen Antworten darauf ist die Geschichte von Hiob, einem Migranten aus dem Kongo, der im Auffanglager von Phili auf der griechischen Insel Kos gestrandet ist.

Er trägt mehrere Plastiktüten mit sich. Gemeinsam mit einem Landsmann ist er im Ortskern von Phili gewesen, einkaufen. Hiob ist Lehrer von Beruf. Doch im Kongo sieht er für sich keine Perspektive. Das über 20 Jahre von dem Marxisten Joseph Kabila und dessen Vater Laurent Kabila regierte Land zählt heute zu den Ländern mit dem schlechtesten Sozialsystem der Welt, die Wirtschaft ist ruiniert. „Ich möchte nach Frankreich, dort arbeiten“, sagt Hiob. Er spricht neben Französisch fließendes Englisch und Portugiesisch. Zu seinem Alter befragt, zögert er. „18 Jahre“, meint er schließlich. In Wahrheit dürfte er um Jahre älter sein.

Von der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa aus machte er sich vor einem halben Jahr auf Richtung Europa. Durch den Sudan nach Ägypten. Von dort mit dem Flugzeug in die Türkei. Eine beliebte Methode von Migranten. Denn für die Einreise von Ägypten benötigt man für die Türkei kein Visum. Schleuser in Izmir brachten ihn schließlich per Boot auf die griechische Insel Kos. Warum nicht auf die viel näher bei Izmir gelegene Insel Chios? Hiob weiß es nicht. „Die Schleuser sagten nur, jetzt geht es los, steig ins Boot.“ Auf Kos kommt er ins Aufnahmelager nach Phili. Fünf Monate ist er nun hier.

„Viele meiner Landsleute machen sich jetzt auf nach Europa“, berichtet Hiob. Die Kapazität des Lagers ist für 800 Personen ausgelegt. Doch inzwischen leben hier fast 4.000 Migranten, viele von ihnen außerhalb. Hiob zeigt auf einen Hügel, nur wenige hundert Meter vom Camp entfernt. „Da leben alle, für die es im Lager keinen Platz mehr gibt. Jeden Tag kommen neue.“ Nur einen einzigen Arzt gebe es für die Migranten. „Die Stimmung ist sehr negativ, es fehlt an Medikamenten, das Essen ist sehr schlecht“, klagt Hiob.

Das streng bewachte Lager liegt gut einen Kilometer vom Ort entfernt, ist mit einem drei Meter hohen Metallgitterzaun rund um das Areal gesichert. Auf dem Zaun sind mehrere Rollen Stacheldraht angebracht. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt ein Militärcamp. Immer wieder fahren Armee-Jeeps und mit Panzern beladene Transporter durch den Ort.

Auf dem Hügel neben dem Lager kommen erste provisorisch errichtete Zelte in Sicht. Grüne Stoffplanen, die über zusammengebundene Holzstöcke gelegt wurden. Weit kommen wir nicht. Ein halbes Dutzend Polizisten eilt herbei, nimmt uns in Gewahrsam. Ausweiskontrolle. Telefonate mit Vorgesetzten. Die Polizisten wollen unsere Fotos kontrollieren. Wir sagen nein. Wieder Telefonate. Schließlich dürfen wir gehen. Den Zutritt ins Camp gewährt man uns nicht. Und: „Keine Fotos mehr.“

„Seit dem Frühsommer ist die Anzahl der Migranten hier stark angestiegen“, berichten Ortsansässige aus Phili gegenüber der JF. Probleme gebe es mit den Neuankömmlingen „bisher noch nicht“. Doch viele ahnen, daß es nicht so bleiben wird. „Wenn im nächsten Monat die kältere und regenreiche Zeit beginnt, wird es für die Camper außerhalb des Lagers ungemütlich. Dann drohen Schlamm und Überflutungen, das wird dann sicher zu Unruhen führen“, fürchten einige im Ort. Auch sie bestätigen: „Viele Migranten kommen inzwischen auch aus Afrika.“

Mehrmals pro Tag fährt ein Bus vom Bergdorf Phili in die an der Küste gelegene Stadt Kos. Jede Fahrt ist voll besetzt mit Migranten, dicht gedrängt steht man im Gang. Jeden Abend, wenn die Fähre vom griechischen Festland die Insel erreicht, versammeln sich zahlreiche Migranten am Hafen. Sie blicken auf das Schiff, diskutieren, telefonieren hektisch. Direkt vor der Fähre hat sich eine Gruppe Migranten in einer Reihe aufgestellt. Eskortiert von bewaffneten Polizisten und Soldaten.

Küstenwache schmieren  und hektisch telefonieren

Weitere Soldaten leuchten mit Taschenlampen unter die Anhänger der wartenden LKWs. Auf Fotos und nähere Blicke reagiert man auch hier ausgesprochen gereizt. Einer der Soldaten stürmt auf uns zu. „Wer sind Sie? Was suchen Sie?“, brüllt er. Polizisten rennen dazu. „Haben Sie diese Leute fotografiert? Ihren Paß, bitte.“ Wieder müssen wir mitkommen, wieder fordert man uns auf, Fotos zu zeigen und zu löschen. Wieder weigern wir uns. Erneut Telefonate. Schließlich dürfen wir auch dieses Mal wieder gehen.

Es sind Szenen, die das Offensichtliche zeigen: Migranten werden regelmäßig von den Inseln aufs griechische Festland gebracht, weil die Kapazitäten längst nicht mehr ausreichen. Es geschieht still und weitgehend unbemerkt. War die Migrationskrise vor vier Jahren angesichts der zahlreichen Zelte an den Stränden und Matratzen an den Mauern der alten Johanniterfestung von Kos (JF 36/15) noch für jedermann sichtbar, so verläuft die Einwanderung heute weitaus geräuschloser und von der Öffentlichkeit unbemerkt. Das Auffanglager von Phili liegt 15 Kilometer von der Küste entfernt. Touristen bekommen so von der sich wiederholenden Migrationskrise kaum etwas mit. In Kos-Stadt sieht man tagsüber nahezu keine Migranten. Nur wer genauer hinschaut, kann sehen, was sich dieser Tage auf den griechischen Inseln abspielt.

Polizei und Militär, das die Migranten bei der Abreise auf das Festland bemüht abschirmt. Von der Hafenpromenade aus ist die Gruppe nicht zu sehen. LKW-Anhänger wurden links und rechts vor dem Einstiegsbereich der Fähre abgestellt. Im Hafen haben mehrere Patrouillenboote der griechischen Marine festgemacht. Am Kai liegen Schwimmwesten, Paddel und Überreste von Schlauchbooten aufgehäuft. Schwarzafrikaner stehen vor Reisebüros, führen Gespräche mit den dortigen Angestellten, gehen wieder aus dem Geschäft heraus, sprechen mit anderen vor dem Geschäft stehenden Migranten, die im Anschluß beginnen, mit ihren Handys zu telefonieren.

Wenige hundert Meter weiter im Stadtinneren sieht man mehr. Dutzende Schwarzafrikaner sitzen am Busbahnhof, warten auf ihre Fahrt zurück nach Phili. Nach der Weigerung Italiens, Schiffe mit Migranten in seine Häfen einlaufen zu lassen, und den verschärften Kontrollen Spaniens an der Straße von Gibraltar hat sich die Ägäis neben syrischen, iranischen, afghanischen und pakistanischen Migranten nun auch für Schwarzafrikaner zur Hauptroute auf ihrem Weg nach Zentraleuropa entwickelt.

„Ich wollte eigentlich über Bodrum nach Europa gelangen, aber der Preis der Schleuser war dafür zu hoch“, erklärt Hiob. Nur wenige Kilometer trennen den türkischen Küstenort von der Insel Kos. Von der Entfernung her ist es der Ort, von dem man am schnellsten über die Ägäis nach Europa gelangt. Doch das Nadelöhr ist auch entsprechend gut bewacht. Ein türkisches Patrouillenschiff liegt in Bodrum vor Anker, vier weitere Schiffe der griechischen Marine im Hafen von Kos.

„Auf unserem Weg in den Hafen haben wir noch vier weitere Patrouillenschiffe gesehen“, berichtet eine vierköpfige Reisegruppe aus Sachsen, die auf ihrer Fahrt durch die Ägäis zwischenzeitlich in Kos angelegt hat. Viele Schwarzafrikaner würden daher vom nördlicher gelegenen Izmir aus ihre Überfahrt starten, um das Schmiergeld für die Küstenwache zu sparen.


Lesen Sie in der nächsten JF, mit welchen Tricks Schleuser und Migranten ihre illegalen Einreisepläne nach Eu­ropa verschleiern.