© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Mit Pleiten ist zu rechnen
Industrie: Autobranche stellt sich auf Konjunkturkrise ein / Zwang zum E-Auto verschärft Strukturumbruch
Paul Leonhard

Recep Tayyip Erdogan empfiehlt den Passat als türkischen Dienstwagen. Warum? VW wird sein neues Werk mit 40.000 Beschäftigten und einer Jahreskapazität von 300.000 Passat und Škoda Superb in Manisa nahe Izmir (Smyrna) errichten. Niedriglöhne und dortige Zulieferer wie Bosch gaben den Ausschlag für die Investition. Bulgarien ist enttäuscht, aber die EU-Anrechnung einer dortigen Produktion auf das CO2-Budget des VW-Konzerns ließ keine andere Wahl. Damit könnte die Türkei, die dank Fiat, Ford, Honda, Hyundai, Renault und Toyota mit jährlich 1,6 Millionen Fahrzeugen auf Weltrang 15 liegt, Kanada, Großbritannien und Rußland bei der Autoproduktion überholen.

EU-Milliardenstrafen bei Grenzwertüberschreitung

Der deutsche Fahrzeugmarkt ist hingegen im Aufwind: 2,74 Millionen Pkws wurden bis September neu zugelassen, 2,5 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Der Lkw-Absatz stieg um 11,3 Prozent. Volvo (+25,5), Seat (+13,1 Prozent), Hyundai (+12,1), Ford (+11,6), Fiat (+8,1), Škoda (+5,5), Mercedes (+5,4) und BMW (+6) legten stark zu, während Opel (+0,8), Audi (-1,7) und VW (-2,6) schwächelten. Daß der deutsche Nissan-Absatz sogar um 32 Prozent einbrach, paßt aber zur globalen Autokonjukturdelle: Die Allianz Renault-Nissan-Dacia-Lada-Mitsubishi will weltweit 12.500 Jobs streichen.

VW will sich zusätzlich zum Zukunftspakt 2016, der 30.000 Stellen bis 2025 einspart, von 7.000 weiteren Mitarbeitern trennen, Ford von 5.000 in Deutschland. Bei Audi stehen 10.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Opel schickt – wegen des Auslaufens des Vans Zafira und schlechter Verkäufe des Insignia – 2.600 Mitarbeiter in Rüsselsheim in Kurzarbeit. Daß die Aussichten in China besser sind, liegt an einen neuen Gesetz: Es zwingt Autobesitzer, ihre Benziner mit dem National-3-Standard bis Ende 2020 gegen Neuwagen zu tauschen. Laut Christoph Stürmer von PwC Autofacts betrifft das mindestens 20 Millionen Fahrzeuge.

Auch der Trend zum automatisierten und vernetzten Fahren sowie die politisch geforderte Umstellung auf Elektroantrieb sorgt für Unruhe. Es fehlen Lösungen bei der Aerodynamik, dem Leichtbau, beim Rollwiderstand. Eigene europäische Batteriefabriken gibt es nicht. Manche erklären den Rückgang der EU-weiten Neuzulassungen mit Verbraucherskepsis: Viele würden warten, bis praxistaugliche E-Autos auf den Markt kommen. Das wird nach Einschätzung von Optimisten frühestens – wenn überhaupt – 2030 der Fall sein.

Die teuren E-Autos, etwa die ID-Serie von VW, dienen vor allem dazu, den Flottenverbrauch zu senken: Ab 2021 drohen EU-Milliardenstrafen bei einem CO2-Ausstoß von über 95 Gramm pro Kilometer. Dies entspricht einem Durchschnittsverbrauch von 3,6 Liter Diesel oder 4,1 Liter Benzin. Bis 2025 soll der CO2-Ausstoß von Neuwagen um weitere 15 Prozent und bis 2030 um 37,5 Prozent verringert werden. Ein E-Auto wird dabei mit null Gramm CO2 angerechnet, ein Plug-in-Hybrid, der theoretisch 40 bis 50 Kilometer reinelektrisch fahren kann, wird im praxisfernen Spritverbrauchstextzyklus (WLTP) mit unter unter 2,5 Litern eingerechnet.

Daß die schweren Zwitter – neben Akku und E-Motor wird ein Verbrennungsantrieb mit rumgeschleppt – mehr verbrauchen, interessiert in Brüssel niemanden. Statt dessen werden Greenpeace-Zahlen, wonach neun Prozent der weltweiten CO2-Emissionen von der Autobranche verursacht werden, ausgeschlachtet: Der „CO2-Fußabdruck“ von VW (Jahresproduktion: 10,8 Millionen Fahrzeuge) habe 2018 mehr als 582 Millionen Tonnen betragen. Das entspreche dem von Australien. Die knapp dahinter liegende Renault-Nissan-Allianz kam auf 577 und Toyota (10,6 Millionen Autos) kam auf 562 Millionen Tonnen CO2.

Daß sich Toyota dennoch die wenigsten Sorgen um die CO2-Strafen machen muß, hat zwei Gründe: Der EU-Autoab­satz der Japaner ist bescheiden und er konzentriert sich auf Kleinwagen und Vollhybride, wo der E-Motor nur von der Bremsenergie „lebt“, was aber wirklich Benzin spart, wie Berliner Taxifahrer wissen. Doch Prius & Co. sind Großstadtphänomene – die globalen Massengewinne fährt Toyota mit Pickups, SUV und preiswerten Limousinen ein.

Fallen Hunderttausende gutbezahlte Stellen weg?

E-Mobil-Lobbyisten wie der US-Ökonom Tony Seba von der Stanford University prognostizieren dennoch, ab 2025 würden weltweit keine Fahrzeuge mit traditionellen Verbrennungsmotoren mehr verkauft. Selbst die IG Metall hat sich mit dem Jobabbau abgefunden: „Wir können nicht jeden einzelnen Arbeitsplatz retten“, so Gewerkschaftschef Jörg Hofmann. Der Diplomökonom verweist auf eine Studie des Fraunhofer-Institut IAO, nach der unmittelbar 120.000 Arbeitsplätze in der Autobranche wegfallen. Eine andere Prognose, die auch die indirekten Effekte auf den Maschinenbau einbezieht, hält 150.000 Stellen für gefährdet (JF 40/18).

Auch Hendrik Riemer vom Bankhaus Berenberg ist skeptisch: Wer viel Kapital in den Verbrennungsmotor investiere habe, müsse demnächst gewaltige Abschreibungen vornehmen: „Ich weiß nicht, ob die Unternehmen, die heute den Automobilmarkt dominieren, das auch in zehn oder 15 Jahren machen werden.“ Die Produzenten würden sich mehr zu Unternehmen entwickeln, „die nicht allein Autos herstellen und auf den Markt bringen, sondern Mobilität als Dienstleistung anbieten“, glaubt Felix Kuhnert, Global-Automotive-Leader bei PwC. Die Digitalisierung des Mobilitätssektors betreffe Produktions- und Designprozesse ebenso wie die Mobilitätsmodelle – Carsharing läßt grüßen.

Von zukünftigen Themen, die „ sehr schwer oder gar nicht abschätzbar“ seien, spricht ZF-Chef Wolf-Henning Scheider. Handelspolitische Konflikte und der Technologiewandel überlagerten sich derzeit. Das in Friedrichshafen ansässige Unternehmen rechnet mit einer schwachen Pkw-Konjunktur für mindestens drei Jahre. Auf „eine Situation ohne Wachstum“ hat Continental seine Aktionäre eingestellt: Umsatz, Gewinn und Cashflow werden zum Teil deutlich sinken. Der Dax-Konzern fährt seine Investitionen in die Verbrennungsmotoren zurück und richtet sich auf Elektromobilität aus. Kosten sollen gesenkt, rund 7.000 Stellen in den nächsten zehn Jahren in Deutschland gestrichen werden.

Autozulieferer Schaeffler will bis 2024 900 Jobs insbesondere in der Autozulieferersparte streichen, 700 davon in Deutschland. Bosch hat bereits 2018 600 Stellen in der Dieselsparte abgebaut, weitere mindestens 500 fallen in diesem Jahr weg. Der Auto- und Kabelzulieferer Leoni will bis 2022 insgesamt 2.000 Stellen streichen, davon 500 in Hochlohnländern, und soll die strukturellen Kosten um 500 Millionen Euro senken.

Der „Markt-Monitor Automotive 2019“ des Kreditversicherers Atradius glaubt, daß Zulieferer der zweiten und dritten Ebene aufgrund ihrer Liquiditätssituation im Wandel zu E-Mobile, Brennstoffzellenantrieb oder autononen Autos nicht mehr mithalten können. Die meisten Insolvenzen könnte es in England, China, Italien, Frankreich und Polen geben. In Deutschland würden die Pleiten im Automobilzulieferersektor um mindestens zwei Prozent zunehmen.

Der Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung glaubt dennoch weiterhin ans traditionelle Automobil: „Was konstant bleibt, sind die Gesetze der Naturwissenschaften. Und hier stehen moderne Verbrennungsmotoren und Elektroantriebe in ihren Emissionen und Wirkungsgraden gleichwertig nebeneinander“, erklärte Christian Vietmeyer, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Zulieferindustrie (ArGeZ).

Arbeitsgemeinschaft Zulieferindustrie (ArGeZ): www.argez.de