© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Amoklauf in eine neue Welt
Migration, Gender und Klima-Wahn: Die Regeln des Zusammenslebens werden durcheinandergewirbelt
Thorsten Hinz

Die großen Entwicklungen und Konflikte im Land und in der Gesellschaft gehen weit über das Politische hinaus. Politik bedeutet, kurz gesagt, die Regelung des inner- und zwischenstaatlichen Zusammenlebens durch verbindliche Entscheidungen. Was heute zur Disposition gestellt wird, sind die kulturellen, zivilisatorischen, geistigen und sogar anthropologischen Grundlagen, auf denen Politik stattfindet und die Regeln des Zusammenlebens festgelegt werden.

Die Flutung mit Dritte-Welt-Einwanderern und das Offenhalten der Grenzen führt nicht nur zu Störungen des sozialen Friedens und ökonomischen Belastungen, sie setzen auch die Rechtsordnung außer Kraft und senken das kulturelle und zivilisatorische Niveau. Mit der Ausbreitung des Tribalismus – der Höherstellung der Stammes- und Clanloyalität über die staatliche Rechtsordnung – oder dem Phänomen der „einfachen Sprache“ kehrt ein überwunden geglaubter Primitivismus zurück. Die Zerstörung der Staatlichkeit findet nach innen wie nach außen statt. Die faktische Erhebung des Privilegs, dauerhaft nach Deutschland einzureisen, zum universellen Menschenrecht, setzt „das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung“ (Carl Schmitt) außer Kraft. Das Land wird der Verfügung derer, die es bewohnen, es bebaut, kultiviert und ihre geschichtlichen Wurzeln hier eingesenkt haben, entzogen und zu einer Provinz des Globalismus gemacht.

Die zweite machtvolle Tendenz ist das Gender Mainstreaming. Es geht der LGBT-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) nicht mehr um die Beseitigung tatsächlicher oder vermeintlicher Diskriminierungen, sondern um die Aufhebung der traditionellen Familie und die totale Verflüssigung der binären Geschlechterrollen, auf der die Zivilisationen und Kulturen historisch beruhen. Angestrebt wird nicht weniger als eine gattungsgeschichtliche Wende, die, sollte sie gelingen, die tradierte in eine unverständliche „Welt von gestern“ verwandeln würde.

Die dritte Tendenz ist das geschürte Klima-Fieber. Ein von starken Affekten geschütteltes, krankes Mädchen, das die Leiden wegen seiner „gestohlenen“ Kindheit und Jugend auf das Klima-Problem projiziert, wird von Politik und Medien zur Galionsfigur, zum Orakel und zur Jeanne d’Arc erhoben, was Zweifel an der Urteils- und Zurechnungsfähigkeit einer Gesellschaft weckt, die sich das bieten und sich davon beeindrucken läßt.

Die genannten Trends fügen sich zu keinem kohärenten Weltbild oder Programm, sie widersprechen sich sogar fundamental. Die Einwanderer aus Macho-Kulturen nehmen das Gender Mainstreaming und seine Folgen als Zeichen von Dekadenz und Schwäche wahr und reagieren entsprechend. Die Einwanderung nach Europa erhöht den ökologischen Fußabdruck der Migranten, die hier denselben Ressourcenverbrauch wie die Einheimischen beanspruchen. Und schließlich: Die rund 150 Kohlekraftwerke in Deutschland haben eine Leistung von 45 Gigawatt. Weltweit sind Kohlekraftwerke in 59 Ländern in Planung und im Bau, die rund 670 Gigawatt liefern sollen, zusätzlich zu den 2.000 Gigawatt der im Betrieb befindlichen Werke. Angesichts dieser Größenordnung wäre es im Interesse des Umweltschutzes effektiver, wenn Deutschland sich auf die Entwicklung exportfähiger technologischer Lösungen zur Minimierung des Schadstoffausstoßes konzentrierte, als seine Werke einfach abzuschalten.

Doch rationale Argumente zählen nicht. Sie wurden als Herrschaftsinstrument des „alten weißen Mannes“, der jahrhundertelang als Herr der Weltgeschichte agierte, entlarvt, dekonstruiert und damit außer Kraft gesetzt. Der Anti-Rassismus-Diskurs, der daran anknüpft, ist eine weitere treibende Kraft unserer Zeit. Wenn Nichteuropäer zu diesem Mittel der moralischen Erpressung greifen, ist das leicht nachzuvollziehen. Neben materiellen Interessen steht dahinter ihr Wunsch, historische Minderwertigkeitskomplexe zu heilen. Der Publizist Michael Klonovsky hat die Ironie und Dialektik des Vorgangs auf den Punkt gebracht: „Wenn man sämtliche Schöpfungen des weißen Mannes von diesem Planeten entfernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vorwürfen zu überhäufen.“

Interessanterweise haben die Chinesen dieses Mittel nicht nötig. Sie adaptieren westliche Errungenschaften zum eigenen Vorteil, während die Europäer, insbesondere die Deutschen, sich die Attacken autoaggressiv zu eigen machen und ihre politische, geistig-kulturelle, wissenschaftlich-technische und soziale Regression betreiben. 

Der Klima-Wahn, eine Mischung aus Ideologie, geschürter Panik und Massenmobilisierung, schafft in Fortsetzung und Steigerung der „Willkommenskultur“ von 2015 die Begründung und praktischen Voraussetzungen, um einen übergesetzlichen Notstand und ein administratives Durchgriffsrecht zu installieren. Es dient aber nicht dazu, den Notstand zu beseitigen, sondern überführt ihn in einen Amoklauf, der geeignet ist, die tradierte Lebenswelt zu zerstören. Das unbewußte, geheime Ziel scheint die Erschaffung eines großen Chaos, eines vorzivilisatorischen, vitalen Urzustandes zu sein, aus dem eine neue Welt hervorgeht.

Im säkularen Endziel eines – wie der Bremer Historiker Simon Kießling in dem kürzlich erschienenen Buch „Selbstaufgabe einer Zivilisation? Eine geschichtsphilosophische Betrachtung“ formuliert – „planetarischen Humanismus“ vermischen sich apokalyptische, eschatologische und messianische Energien und Sehnsüchte zu einer Dreiheit aus Zerstörungs-, Vollendungs- und Erlösungserwartung. In der Utopie des „rasse-, volks- und nationslosen“, „geschlechtsneutralen, androgynen“ Menschen zeichnen sich neuerlich die Umrisse des in der Bibel angekündigten Neuen Menschen ab (Eph 2,15; Eph 4,24; Kol 3,10), der die Gebrechen des „Alten Adam“ abgelegt hat. In Epheser 4,24, heißt es: „(...) erneuert euch im Geist und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ Er ermöglicht einen neuen Bund, eine Weltgemeinschaft im Geiste Christi: „Da ist nicht Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Ungrieche, Skythe, Knecht, Freier, sondern alles und in allen Christus.“ (Kol 3,11) 

Doch alle Versuche, die biblische Verkündigung im Irdischen zu verwirklichen, haben in Katastrophen geendet. Die Bewegung der Wiedertäufer im Zuge der Reformation führte in Münster zu einem wahnhaften, blutigen Terrorregime, das die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts vorwegnahm („Die Gegenwart der Termiten“, JF 42/18). Im 20. Jahrhundert versuchten die säkularen politischen Religionen des Sowjetkommunismus und des Nationalsozialismus, nicht nur gänzlich neue Gesellschaftsformationen, sondern auch einen Neuen Menschen zu kreieren.

Der ideale Sowjetmensch war von allen negativen Eigenschaften wie Selbstsucht, Faulheit, Dummheit, Alkoholismus gereinigt und der Sache des Sozialismus treu ergeben. Leo Trotzki schrieb 1923: „Der Mensch wird unvergleichlich stärker, klüger, feiner werden (…) der menschliche Durchschnitt wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben.“ Das innere Leuchten strahlte nach außen: In den Massenaufmärschen und sportlichen Darbietungen paradierten kraftvolle, lächelnde, vom Vorschein des künftigen Arbeiter- und Bauernparadieses erfüllte Menschen. Die Abwesenheit jeden Zweifels in den Gesichtern machte sie freilich zum beschränkten, eindimensionalen „Homo sovieticus“.

Der Neue Mensch des Nationalsozialismus war gleichfalls kraftvoll, heroisch, schön und fruchtbar, idealistisch, selbstgewiß und – ein vulgarisierter Nietzsche. Denn dieser nordische „Über-“ benötigte als dialektisches Gegenstück den „Untermenschen“. Im übrigen wirkten die allegorischen Darstellungen in Gestalt muskulöser Männerleiber, die der Bildhauer Arno Breker für einen 240 Meter langen Relieffries der geplanten Nord-Süd-Achse in Berlin entwarf, überzüchtet und einschüchternd, eher un- als übermenschlich und nachahmenswert.

Vom Neuen Menschen der zwei totalitären Systeme blieb unterm Strich die ideologisch manipulierte und in die politische Disziplin gezwungene Persönlichkeit. Unberührt geblieben aber war die anthropologische Wurzel, die Bipolarität der Geschlechter. Für Marx und Engels war die heteronormative Familie ganz selbstverständlich die „Keimzelle der Gesellschaft“. Der ideologische Plunder ist von den meisten der Betroffenen mit dem Zusammenbruch 1945 beziehungsweise 1989 schnell wieder abgefallen. 

Das Neuer-Mensch-Projekt der Gegenwart ist tiefer angelegt. Das Ideal, das er verkörpert, ist das umgeschaffene Gattungswesen. Nun schreibt aber Hannah Arendt in ihrer Untersuchung zur totalen Herrschaft, daß jeder Mensch, der geboren wird, einen neuen Anfang setzt und die Kontinuität, die das Herrschaftssystem zu unterbrechen versucht, wieder aufnimmt. Man kann ihn also – die Möglichkeit des operativen oder genetischen Eingriffs beiseite gelassen – durch Dauerkonditionierung allenfalls zu einem Neurosenbündel verformen, das vom „Alten Adam“ der davon unberührt gebliebenen Migranten gestellt und außer Kraft gesetzt werden wird. Hier liegt einer der überpolitischen Kernkonflikte, die zur Entscheidung drängen.