© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Eulen nach Athen getragen
Jubiläum: Heinrich Meiers armseliges Buchpräsent „Nietzsches Vermächtnis“ zum 175. Geburtstag des großen Philosophen
Oliver Busch

Auch im Krieg schweigen die Musen nicht. Selbst in dem von Joseph Goebbels proklamierten  „totalen Krieg“ nicht, den das Deutsche Reich nach der Niederlage von Stalingrad auszufechten hatte. Darum lief die UfA-Traumfabrik bis zum Zusammenbruch auf Hochtouren, spielten die Berliner Philharmoniker in den Gärten von Granada, kamen Kohorten von Geisteswissenschaftlern an auswärtigen wie heimischen Kulturfronten kriegssinnstiftend zum Einsatz. 

Ein besonderes Pfund, mit dem man dabei wucherte, war der zum Vordenker des Nationalsozialismus stilisierte Philosoph Friedrich Nietzsche, dessen 100. Geburtstag, allen Widrigkeiten zum Trotz – US-Truppen stießen über die Maas gegen Aachen vor, die Rote Armee stand an der Memel – am 15. Oktober 1944 in einer pompösen Feier im Weimarer Nationaltheater zelebriert wurde. Aber mit Alfred Rosenberg, dem Chefideologen der NSDAP als Festredner, erreichte die propagandistische Nietzsche-Vereinnahmung in Weimar lediglich ihren Zenit. Denn schon während des Gedenkjahres stieg die Flut der Texte zu Leben und Werk des, nach Goethe, „größten Ausstrahlungsphänomens“ der deutschen Geistesgeschichte (Gottfried Benn, 1933) kontinuierlich. Sie spülte auch manches Seriöses an, wie den in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Heft 1/1944) erschienenen Aufsatz von Martin Dibelius über „Der psychologische Typus des Erlösers bei Friedrich Nietzsche“. 

Nietzsche unterscheidet zwischen Jesus und Paulus

Ein Thema, mit dem der Heidelberger Neutestamentler im Strom des Zeitgeistes zu schwimmen schien. „Nietzsche als Gegner des Christentums“, so lautete eine der – neben „Nietzsches aristokratische Weltanschauung“ und „Nietzsches Philosophie des Krieges“ – vom Weimarer Nietzsche-Archiv für 1944 ausgelobten Preisfragen. Im Kampf gegen das das Leiden „verherrlichende art- und rassefeindliche Ethos“ des Christentums fühlten sich Nationalsozialisten dem „Gott ist tot“-Rufer schließlich am nächsten. Entsprechend großzügig fiel deswegen etwa die Papierzuteilung für 40.000 Exemplare einer Neuausgabe von dessen „Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum“ (1888) aus, die 1941 in dem vom SS-Ahnenerbe finanzierten Nordland Verlag erschien. 

Zu solchen plumpen neuheidnischen Aktualisierungen hält Dibelius mehr als Distanz. Er nimmt ihnen den Wind aus den Segeln, indem er ins Zentrum von Nietzsches Kritik vorstößt, die streng zwischen der Gründerfigur Jesus und „Theologen“ wie Paulus unterscheidet. Und Jesus von Nazareth als „Idioten“ charakterisiert. Nicht im psychiatrischen, sondern, respektvoll, im typologischen Sinn, als nahezu autistischen, wirklichkeitsfremden Menschen, „reiner Tor, in sich seliger Narr“ (Friedrich Georg Jünger, 1949), ein „jenseits von Geschichte und Moral“ lebender „heiliger Anarchist“, der kein Prophet, kein Religionsstifter sein, kein Jüngstes Gericht, nicht Erbsünde und Schuld, kein himmlisches Paradies verkünden wollte.

Für Nietzsche, resümiert Dibelius, lautet daher die frohe Botschaft schlicht: „Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch …“ Das Himmelreich sei ein Zustand des Herzens, nichts was sich über der Erde oder nach dem Tode befinde. Jeder sei das Kind Gottes, Jesus nehme nichts für sich allein in Anspruch, er starb auch nicht für andere, er starb nur für seine eigene Schuld.   

Folglich habe Nietzsche die Aufmerksamkeit auf das „Unbürgerliche im Evangelium“, das mit dem Alltagsleben, mit Politik und Kultur Unvereinbare gelenkt und erfaßt, daß es darin nicht um eine Lehre, sondern um eine beispielgebende „Praktik“ gehe. Erst Paulus, für Nietzsche „ganz und gar kein Idiot!“, machte aus Jesus’ froher eine sehr schlimme Botschaft, ein „Dysangelium“, das den Glauben systematisierte und dogmatisierte, die „Falschmünzerei der Transscendenz und des Jenseits“ einführte und den Menschen von der Seligkeit des Augenblicks auf zukünftiges Heil nach der Auferstehung vertröstete.

Die Pointe des „Antichristen“ deutet Dibelius allerdings nur an. Obwohl Nietzsches Sympathien der anarchistischen „Praktik“ des Erlösers gehören, mit der kein Staat zu machen, erst recht keine „Volksgemeinschaft“ zu organisieren ist, ergreift er mit gleicher Vehemenz Partei gegen Jesus wie gegen Paulus. Weil so oder so, als weltflüchtige Sekte, die es in Treue zum Nazarener hätte bleiben müssen, wie als weltgestaltende, Jahrtausende prägende Kirche, das Christentum das Diesseits entwertet, die Wirklichkeit verfälscht und verneint, um den Menschen in einer „reinen Fiktions-Welt“ anzusiedeln. Die Menschheit orientiere sich also noch im 19. Jahrhundert an christlichen „Niedergangs-Werthen“, die „nihilistische Werthe“ seien, was im Prozeß der modernen Säkularisierung offen zutage trete. Mit dem galoppierenden Glaubensverlust kündige sich der „Tod Gottes“ an, damit die Erosion der abendländischen Metaphysik und die Zersetzung des obersten Wertes der westlichen Kultur. Worauf Nietzsche mit einer „Umwertung aller Werte“ antwortete, einer Apotheose des Lebens, deren Kernelemente er in seiner relativistischen Erkenntnislehre von der perspektivischen Wahrheit und den lebenssteigernden Mythen vom Willen zur Macht, vom Übermenschen und der ewigen Wiederkunft formuliert.   

Martin Dibelius deutet es, wie gesagt nur an, aber der „Antichrist“, die Auseinandersetzung mit dem Christentum  ist eine Herzkammer in Nietzsches Gedankengebäude, von der aus sich mühelos auf weitere substantielle Elemente zugreifen läßt, vor allem auf seine aphoristische Modernetheorie, die Kulturkritik und die politische Philosophie. Kein Wunder, daß der Intellektuellenstreit über den Rang des „Antichrist“ in der Rezeptionsgeschichte des Textes vor und nach 1945 deutliche Spuren hinterlassen hat. 

Meier entpolitisiert und verharmlost

Um so mehr muß es überraschen, wenn Heinrich Meier jetzt ein Buch vorlegt, das Nietzsches „Philosophie im ganzen neu in den Blick nehmen“ will, indem es den „Antichristen“ mit „Ecce homo“ zusammenspannt, einem philosophisch ziemlich belanglosen autobiographischen Text, abgeschlossen ebenfalls im Herbst 1888, kurz bevor der Autor in der Nacht des Wahnsinns verschwand.

Noch überraschender ist, daß Meier, seit 1985 als Nachfolger Armin Mohlers Geschäftsführer der Siemens-Stiftung in München, eine „textimmanente Interpretation“ präsentiert, die auf die Forschungsliteratur nicht eingeht, daher, mit Ausnahme der belegten Nietzsche-Zitate, fast ohne Fußnoten und gänzlich ohne Bibliographie auskommt.

Für soviel Askese entrichtet der Verfasser einen hohen Preis. Denn einerseits gerät ihm kaum etwas „neu in den Blick“. Fast alles, was er zum „Antichristen“ umständlich und ermüdend referiert, ist bei Martin Dibelius nachzulesen, bei Walter Kaufmann, bei Jörg Salaquarda sowie vielen anderen Disputanten, vornehmlich Theologen, die sich mit Nietzsches „Fluch auf das Christenthum“ und dessen weltanschaulichen Konsequenzen beschäftigt haben. Andererseits schneidet ihn seine „immanente“ Deutung gerade vom Resonanzraum eines Werkes ab, das nach Nietzsches exaltiertem Willen an die Menschheit adressiert ist, um sie zur „höchsten Selbstbesinnung“ zu bringen und sie dem Abgrund des Nihilismus zu entreißen.

Das wirft zwangsläufig die Frage auf, wie das „Ja zum Leben“ gesellschaftspolitisch zu realisieren wäre. Was etwa „Höherzüchtung der Menschheit“ meint? Führt ein Weg von Nietzsche zum Transhumanismus, zur Verschmelzung von Mensch und Computer? Hier zuckt Meier erschrocken zurück, um „keinen zusätzlichen [den Debatten der Gegenwart benachbarten] Raum“ zu geben für Spekulationen, die hinausgingen über die „dunkelste Parteinahme im Umkreis der Doktrin des Willens zur Macht“, wie er den „heroischen Realismus“ der Nietzsche-Adaption des NS-Philosophen Alfred Baeumler verdruckst nennt.

Mit Nietzsche treibt Meier also fort, was mit seinen Studien über den Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt als „politischen Theologen“ anhob. Er enthistorisiert, entpolitisiert, neutralisiert, verharmlost das Objekt seiner Begierde. Hatte er Schmitt als Exponenten der von ihm in den 1980ern vorhergesagten, aber kultursensibel nicht am fundamentalistischen Islam festgemachten Rückkehr totalitärer politischer Religionen identifiziert, im Nachklapp zu Karl R. Popper quasi als „Feind der offenen Gesellschaft“, ist er nun wohl bestrebt, Nietzsche in Zeiten verschärfter Globalisierungskritik einer politischen Lektüre zu entziehen. Ein verheißungsvoller Probelauf ist ihm mit der „Ecce homo“-Exegese dieses Bandes schon geglückt, die Nietzsche angleicht an Meiers neoliberales Verständnis von der ideologisch allemal ausreichenden Funktion der Philosophie als Lebensratgeber „auf dem Boden menschlicher Weisheit“.

Weiterführende Adressen: Friedrich-Nietzsche-Stiftung und Nietzsche-Gesellschaft e.V., Jakobsmauer 12, 06618 Naumburg (Saale), Tel: 0 34 45 / 26 11 33

Nietzsche-Haus und Dokumentationszentrum, Weingarten 18, 06618 Naumburg (Saale), Tel. 0 34 45 / 20 16 38

Friedrich-Nietzsche Gedenkstätte, Teichstraße 8, 06686 Lützen, OT Röcken,  Tel: 03 44 44/ 16 97 05

 www.nietzsche-portal.eu

Heinrich Meier: Nietzsches Vermächtnis: Ecce homo und Der Antichrist. C. H. Beck, München 2019, gebunden, 351 Seiten, 28 Euro