© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Schwächelnder Leviathan: Klima statt innere Sicherheit
Lob der Grenze
Martin Wagener

Kein anderes Thema dominiert derzeit die mediale Berichterstattung so sehr wie die Klimapolitik. Parallel dazu sind Fragen der inneren Sicherheit ins zweite Glied gerückt. Auffällig ist, mit welcher Intensität politische Entscheidungsträger und die öffentlich-rechtlichen Medien plötzlich das Thema beackern. Das zentrale Motiv für diese Vorgehensweise läßt sich klar benennen. Nach 2015 haben beide Seiten gelernt, daß die permanente Diskussion der Flüchtlings- und Migrationskrise vor allem der AfD genutzt hat. Nun wird der Spieß umgedreht. Die Aufmerksamkeit der Bevölkerung ist auf ein neues Schwerpunktthema gelenkt worden, um der immer noch recht neuen Partei rechts der Mitte das Wasser abzugraben.

Die Flüchtlings- und Migrationskrise hält derweil an. Von 2015 bis 2018 haben 1.524.517 Menschen einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Weitere 98.428 Anträge folgten im Zeitraum von Januar bis August 2019, weshalb von einer Entschärfung der Lage nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist eine Stabilisierung auf hohem Niveau festzustellen. In jedem Jahr von 1999 bis 2012 haben weniger Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt, als dies 2019 bereits der Fall ist. Wer eine Entschärfung der Lage bewirken will, muß zurück zum Zustand von 2007. Damals gab es nur 19.164 Erstanträge auf Asyl.

Parallel dazu muß das von 1990 bis 2015 bei über 70 Prozent liegende Vollzugsdefizit im Bereich der Abschiebungen reduziert werden. Dies ist auch deshalb notwendig, weil die Gesamtschutzquote von Januar bis August 2019 bei lediglich 37,3 Prozent lag. Das Asylrecht wird in der Gesellschaft nur dann langfristig akzeptiert bleiben, wenn Wirtschaftsflüchtlinge – im angegebenen Zeitraum also 62,7 Prozent – konsequent und zeitnah abgeschoben werden.

Perspektivisch wird Deutschland mit einem noch weitaus schärferen Migrationsdruck umgehen müssen, der heute kaum vorstellbare Ausmaße annehmen wird. In Afrika leben derzeit über 1,3 Milliarden Menschen. Etwa alle zwölf Tage wächst die Bevölkerung des Kontinents um eine Million weitere Erdenbürger. Laut Afrobarometer tragen sich 37 Prozent von ihnen mit dem Gedanken, ihr Land zu verlassen. Dies hat einen Grund: Die schwachen, meist autoritären Staaten Afrikas sind nicht in der Lage, ihren Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen, weil sie selbst Opfer des hohen demographischen Drucks geworden sind.

Die reichen Industriestaaten, vor allem die Bundesrepublik, wirken da wie ein Magnet. Ein Vergleich der Wirtschaftskraft macht dies deutlich. Der globale Anteil Deutschlands am Bruttoinlandsprodukt lag 2018 bei 4,66 Prozent, was mehr als dem Doppelten der kompletten Subsahara entspricht, die gerade einmal 1,98 Prozent erzielen konnte. Dies ist einer der zentralen Pull-Faktoren für die Migration aus dem Süden in den Norden.

Will die Bundesregierung auf die vor diesem Hintergrund absehbaren Szenarien vorbereitet sein, wird ihr gar nichts anderes übrigbleiben, als eine physisch sichtbare Grenzanlage zu bauen, die von Grenztruppen bewacht wird. Nur so ist es möglich, den Stürmen der Zukunft aus eigener Kraft gewachsen zu sein. Die aktuelle Politik folgt dagegen dem Prinzip Hoffnung. Dazu gehören auch Appelle an Recep Tayyip Erdogan, das 2016 mit der Europäischen Union geschlossene Flüchtlingsabkommen zu beachten. Der türkische Präsident hat in den vergangenen Wochen gleich mehrfach gedroht, die Schleusentore wieder zu öffnen (und es zur Warnung auch ein wenig getan).

Wenn Menschen meist afrikanischer Herkunft ohne jede Einschränkung ganz offen Drogen im Görlitzer Park in Berlin verkaufen können, dann signalisiert der Staat seinen Bürgern: „Wir haben diesen Teil der Hauptstadt aufgegeben.“

Derzeit leben über 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei. Die deutsche Flüchtlings- und Migrationskrise könnte somit jederzeit von Erdogan verschärft werden, was zeigt, wie sehr sich die Bundesregierung in dieser Frage von ihm abhängig gemacht hat. Am Bosporus hat man dagegen die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt. Hätte Erdogan ab 2014 nicht eine Mauer an der Grenze zu Syrien bauen lassen, die von Grenztruppen gesichert wird, wären weitaus mehr Flüchtlinge in die Türkei gekommen.

Offene Grenzen sind für Deutschland aber noch aus einer zweiten Perspektive ein Problem. Sie ermöglichen es auch internationalen Kriminellen, weitgehend ungestört zu agieren. Zu nennen sind verschiedene Formen der Bandenkriminalität, reisende Tätergruppen, Vertreter der organisierten Kriminalität, Schmuggler (unter anderem Drogen, Waffen) und Schleuser (Menschenhandel), gewaltbereite Demonstranten, Terroristen und – während der stärksten Phase des „Islamischen Staates“ – die Foreign Fighters. Die Aktivitäten dieser transnational operierenden Gruppierungen könnten erheblich gestört werden, wenn Deutschland an seiner Außengrenze systematisch Kontrollen durchführen würde. Bestimmte kriminelle Vergehen wie der Menschenhandel würden dadurch komplett zum Erliegen kommen.

Kontrollen wirken, wie dies im Vorfeld des G7-Gipfeltreffens in Elmau 2015 oder des G20-Gipfeltreffens 2017 in Hamburg demonstriert wurde. Die Polizei konnte in wenigen Tagen mehrere hundert Haftbefehle vollstrecken und mehrere tausend Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz feststellen. Wenn die Wiederherstellung von Recht und Ordnung so einfach ist, warum geht die Politik dann nicht einen Schritt weiter?

In einem Buch habe ich 2018 vorgeschlagen, eine mehrstufige Grenzanlage zu errichten, die Deutschland die Kontrolle über sein Territorium wiedergibt. Die Studie hat gezeigt, daß ein solches Projekt technisch und finanziell ohne größere Probleme umsetzbar ist. Eine postmoderne Grenzanlage würde zudem nicht isolationistisch wirken. Berechtigte Unternehmer, Grenzpendler, Touristen oder Studenten könnten jederzeit ein- und ausreisen. Sie müßten sich dabei allerdings an großen Grenzübergangsstellen einer Kontrolle unterziehen. Der dadurch erzielbare Gewinn für die innere Sicherheit wäre immens.

In der aktuellen Lage ist die Idee einer Grenzanlage natürlich nicht durchsetzbar. Unter Anhängern der Union gibt es dafür zwar eindeutig Sympathien, sicher aber nicht bei der SPD und den Grünen. Da die Partei Konrad Adenauers derzeit vor allem linke Bündnisse anstrebt, wird sie alles tun, um die Koalitionspartner nicht zu verschrecken. Vielmehr soll um sie geworben werden. In der Agenda-Setzung kann dies logisch dann nur bedeuten: weniger innere Sicherheit, mehr Klimapolitik.

Das Ergebnis dieser Prioritätensetzung ist ein schwächelnder Leviathan, was wahrlich kein neuer Befund ist. Er wird gleichwohl immer sichtbarer. Dies gilt nicht nur für den maroden Zustand der Bundeswehr, sondern auch für eine unterfinanzierte Bundespolizei. Zudem gelingt es den Sicherheitsbehörden offensichtlich nicht mehr, zeitnah genügend Personal zu gewinnen. Im Sommer 2018 waren beim Bundesnachrichtendienst 970 Planstellen unbesetzt, beim Bundesamt für Verfassungsschutz sogar über 1.000. Auch die Bundeswehr sucht verzweifelt Nachwuchs.

Die Polizei hat sich wiederum aus zahlreichen Stadtteilen mit hoher Kriminalitätsrate de facto zurückgezogen. Wenn Menschen meist afrikanischer Herkunft ohne jede Einschränkung ganz offen Drogen im Görlitzer Park in Berlin verkaufen können, dann signalisiert der Senat seinen Bürgern: „Wir haben diesen Teil der Hauptstadt aufgegeben.“ Das Vertrauen in den Rechtsstaat wird dadurch untergraben. Wie schwach der Sicherheitsapparat mittlerweile ist, zeigt vor allem die Zahl der offenen Haftbefehle. Am 28. März 2019 lag sie bei 185.736.

Der Gesellschaftsvertrag wird langfristig nur aufrechtzuerhalten sein, wenn der Leviathan seinen Verpflichtungen nachkommt. Lebt der Naturzustand irgendwann wieder auf, wird sich niemand mehr für Klimapolitik interessieren.

Die derzeitige Fixierung auch der Union auf die Klimapolitik enthüllt geradezu, warum die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf diese Thematik gelenkt werden soll. Aus der Sicht der Bundesregierung geht es dabei um die Rettung des Planeten. Folgerichtig sollen die Bürger lernen, daß Themen wie illegale Einwanderung und Ausländerkriminalität weniger bedeutsam sind, weshalb sie in einem gewissen Ausmaß geduldet werden müssen. Denn eines ist offensichtlich: CDU und CSU haben seit 2015 ihren zuvor uneingeschränkten Status als Partei der inneren Sicherheit verloren. Sie versuchen nun, dies über neue Formen der Profilierung als Umweltpartei im Kompetenzprofil auszugleichen. Dem Themenwechsel liegt also primär ein machtpolitisches Kalkül zugrunde. Um die Sache allein kann es kaum gehen. Der deutsche Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen lag 2017 bei gerade einmal 2,21 Prozent.

Die Lage ist somit paradox. Die Bundesregierung investiert in eine Klimapolitik, die absehbar kaum Erfolge zeitigen wird. Zugleich vernachlässigt sie die innere Sicherheit, obwohl sie in diesem Segment jederzeit Instrumente einsetzen könnte, um Kriminalität und illegale Zuwanderung nachhaltig zu reduzieren.

So bleibt es im einstigen Kompetenzfeld bei Absichtserklärungen. Im Masterplan Migration 2018, der vom Bundes­innenministerium erstellt worden ist, heißt es: „Wir müssen wissen, wer sich in unserem Land aufhält.“ Im Februar 2019 erklärte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, daß eine Grenzschließung als „Ultima ratio“ denkbar sei. Im selben Monat hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann angedacht, ein europäisches Ein- und Ausreiseregister zu schaffen.

Dies ist alles schön und gut, aber ohne den Bau einer Grenzanlage und ohne systematische Kontrollen nicht machbar. Erneut greift das machtpolitische Kalkül. Natürlich wissen die Verantwortlichen, daß ihre Forderungen nicht umsetzbar sind. Sie werden dennoch erhoben, um konservative Wähler zurückzugewinnen.

Eine solche Placebo-Politik hat viele Facetten. Zu ihnen gehört auch die halbjährlich wiederholte Verlängerung der Genehmigung von Kontrollen an der Grenze zu Österreich, mit der aber letztlich nur vorgetäuscht werden kann, die verheerenden Folgen des Schengen-Systems in den Griff zu bekommen. Im Zufallsverfahren gelingt es der Bundespolizei dabei natürlich, illegale Einwanderer und Kriminelle festzusetzen. Da aber nur an sehr wenigen Grenzübergängen Kontrollen durchgeführt werden, ist die illegale Einreise weiterhin jederzeit möglich.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter legen Jahr für Jahr Berichte vor, aus denen sich sehr eindeutige Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Sie werden zu großen Teilen ignoriert, das übliche Durchwursteln dominiert Regierungsentscheidungen in Fragen der inneren Sicherheit. Der Gesellschaftsvertrag wird langfristig gleichwohl nur aufrechtzuerhalten sein, wenn der Leviathan seinen Verpflichtungen nachkommt. Lebt der Naturzustand irgendwann wieder auf, wird sich niemand mehr für Klimapolitik interessieren. Deutschland hätte dann ganz andere Sorgen.






Prof. Dr. Martin Wagener, Jahrgang 1970, unterrichtet seit 2012 Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Berlin. Zuvor war er seit 2009 Juniorprofessor an der Universität Trier. Im August 2018 ist sein Buch „Deutschlands unsichere Grenze. Plädoyer für einen neuen Schutzwall“ erschienen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den UN-Migrationspakt („Der Hebel von Marrakesch“, JF 49/18).

Foto: Schlechtes Klima für die Grenzsicherung: Die Bundesregierung betreibt eine Klimapolitik, die absehbar kaum erfolgreich sein wird. Zugleich vernachlässigt sie die innere Sicherheit, obwohl sie dort jederzeit Instrumente einsetzen könnte, um wirksam Kriminalität und illegale Zuwanderung zu begrenzen.