© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Im Endkampf reiften die Mythen
SS-Division „Charlemagne“: Veit Scherzers Großwerk über französische Freiwillige im Zweiten Weltkrieg
Matthias Bäkermann

Kaum ein Fremdenführer, der Touristen durch die heutige Stadtmitte Berlins führt und dabei auf den Untergang des Dritten Reiches hinweist, kommt bei seinem Bummel zwischen früherem Führerbunker und dem damaligen Reichsluftfahrtministerium ohne den Hinweis aus, daß im Zentrum der Reichshauptstadt mehrheitlich ausländische SS-Einheiten die letzten Fleckchen des Hitler-Reiches verteidigt hätten: Dänen, Letten, Norweger und Franzosen.

Tatsächlich steigt bei vielen Hörern sofort das Interesse, denn die Verbindung des monumentalen Zusammenbruchs des NS-Reiches 1945 mit seinen Elitesoldaten – zudem auch noch in ihrer europäischen Dimension – und deren Nimbus als äußerst böse und skrupellos, aber auch überaus kampfstark, verbissen und tapfer, läßt diesen letzten Akt ausgesprochen spektakulär erscheinen.

Einen besonderen ausländischen Verband unter der Doppel-Sigrune, nämlich die französischen Freiwilligen in der Waffen-SS, hat nun der Militärhistoriker Veit Scherzer mit einem ebenso umfangreichen wie detaillierten und reich illustrierten Großwerk genauer unter die Lupe genommen – unbefangen von der Tatsache, daß die oft im Fokus stehenden etwa 90 Soldaten der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS „Charlemagne“ im Kessel von Berlin Ende April 1945 kaum die Stärke einer Kompanie hatten.

Erste Freiwillige gegen den Bolschewismus bereits 1941

Gemessen an ihrer militärischen Größe innerhalb der 18 Millionen Kombattanten im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite – zu keiner Zeit erreichte die nach dem deutschen und französischen historischen Urahn benannte „Charlemagne“ eine ordentliche Divisionsstärke von mehr als 12.000 Soldaten –, aber auch gemessen an der Bedeutung für das Kriegsgeschehen ist dieser Verband überdurchschnittlich literarisch gewürdigt worden – nicht zuletzt durch Scherzers aktuellen 800seitigen Opus. 

Dies steht jedoch kaum im Verhältnis zur Quellenlage. Scherzer kritisiert gleich zu Beginn seines Werkes, daß sich in Ermangelung amtlicher Dokumente in den Archiven und nur spärlicher Verweise im Kriegstagebuch oder auf Lagekarten die meisten Bücher über die „Charlemagne“ auf die nach dem Krieg niedergeschriebenen „Documentations“ von Robert Soulat stützen, eines französischen Veteranen ebendieses Verbandes. Doch Soulat diente als Schreiber für Beförderungsangelegenheiten im Divisionsstab in der Etappe und konnte sein Wissen von den Kämpfen dieser Einheit nur durch Erzählungen überlebender Kameraden von der Front erfahren haben. Damit hatte Soulats wohl mit ernsthafter historischer Absicht angelegte Arbeit bereits den Makel, durch dramaturgische Zuspitzungen apologetisch oder gar romanesk zu sein. 

Scherzer umreißt die Geschichte der französischen Soldaten unter deutschem Befehl nach der Niederlage Frankreichs gegen die deutsche Wehrmacht. Kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde auf Anregung von drei Politikern der Vichy-Regierung die „Légion des volontaires français contre le bolchévisme“ gegründet, der sich über 10.000 Freiwillige anschlossen. Davon konnte jedoch nur gut die Hälfte (vor allem wegen extrem schlechter Zähne) als tauglich gemustert werden und wurde dann der Wehrmacht, genauer der 7. Infanteriedivision, unterstellt. Diese zur Heeresgruppe Mitte gehörende Einheit erlitt allerdings im Dezember 1941 beim Angriff auf Moskau schwerste Verluste. Die Überlebenden wurden danach im rückwärtigen Gebiet der Ostfront mit Besatzungsaufgaben betraut, seit Ende 1942 auch vermehrt mit Kämpfen gegen sowjetische Partisanen. Die letzten Reste dieser Freiwilligenlegion „gegen den Bolschewismus“ wurden dann im Herbst 1944 der neuaufgestellten Waffen-SS-Einheit „Charlemagne“ angeschlossen.

Bereits im Jahr 1942 reiften aus den Erfahrungen mit ersten ausländischen Waffen-SS-Einheiten (Wallonen, Niederländer, Skandinavier und bald darauf Esten und Letten) und dem damit einhergehenden Machtzuwachs von Himmlers SS gegenüber der Wehrmacht konkretere Überlegungen, eine französische Waffen-SS-Einheit zu gründen. Nach bilateralen Abstimmungen mit der Vichy-Regierung stimmte Hitler im März 1943 Anwerbemaßnahmen in Frankreich zu. Am 22. Juli 1943 verfügte auch Vichy-Regierungschef Pierre Laval, daß sich „Franzosen zum Kampf gegen den Bolschewismus außerhalb des französischen Staatsgebietes für die von der deutschen Regierung gebildete Einheit (Waffen-SS) freiwillig verpflichten, wobei sie in einer französischen Einheit zusammengefaßt werden“. Die Anwerbung, Aufstellung und Ausbildung, vor allem eines französischen Führerkorps, beanspruchte danach fast ein Jahr. 

„Charlemagne“ wurde erst im August 1944 aufgestellt

Nach dem faktischen Zusammenbruch der Heeresgruppe Süd mußte Ende Juli 1944 die südliche Ostfront in Galizien stabilisiert werden. Dabei sollte die junge Einheit ihre erste Kampferfahrung sammeln. In Regimentsstärke wurden die Franzosen der 18. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division unterstellt, wo sie zusammen mit bereits kampferprobten anderen SS-Einheiten einen Monat lang in hartnäckige und verlustreiche Kämpfe gegen die anstürmende Rote Armee verwickelt wurden. Die offizielle Gründung der „Waffen-Grenadier-Brigade der SS Charlemagne“ wurde erst nach Verlegung der überlebenden Kampfeinheiten aus Galizien auf dem „Truppenübungsplatz Westpreußen“ bei Konitz von Heinrich Himmler als „Geheime Kommandosache“ am 26. August 1944 verfügt.

Scherzer weist darauf hin, daß trotz der zugespitzten militärischen Lage Ende 1944 dem bereits eingesetzten Teil der „Charlemagne“ als auch den in der Ausbildung befindlichen SS-Männern eine verhältnismäßig lange Ruhephase zugestanden wurde. Wie bereits in Galizien, aber auch später nach der sowjetischen Großoffensive im Januar 1945, die fast zum Zusammenbruch der Ostfront führte, kann er keinen Hinweis darauf finden, daß die Franzosen als „Kanonenfutter“ eingesetzt worden seien. Das Klischee, fremde SS-Soldaten würden allzugern vom deutschen Oberkommando an Brennpunkten der Schlachten „verheizt“, war nicht zuletzt durch den Ausspruch „Für jeden Fremdvölkischen, der fällt, weint keine deutsche Mutter“ des SS-Generals Gottlob Berger genährt worden.

Selbst der Einsatz in der 1945 hastig zusammengewürfelten Heeresgruppe Weichsel, die in Hinterpommern sowjetische und polnische Truppen abwehren sollte, war nicht wesentlich blutiger als jene von Wehrmachts- oder gar Volkssturmeinheiten. Spätere Schilderungen über heroische Schlachten gegen die Rote Armee östlich der Oder entkräftet Scherzer zudem durch Aktenfunde im Lastenausgleichsarchiv als Mythen. So hatten viele Vertriebene nach dem Krieg übereinstimmend berichtet, daß die französischen SS-Männer in Pommern statt in verbissenen Kämpfen ihr Heil lieber in frühzeitigen Absetzbewegungen nach Westen gesucht hätten. 

Die Division „Charlemagne“ erreichte im März 1945 schließlich Mecklenburg, wo ein Teil in letzte Gefechte gegen die Sowjets verwickelt wurde, der Rest der sich allmählich auflösenden Truppe strebte nach Westen in Richtung US-Gefangenschaft. Auf viele dieser Soldaten wartete in Frankreich danach wegen ihrer Kollaboration mit dem Feind die Hinrichtung oder zumindest langjährige Lagerhaft und Gefängnisaufenthalte. 

Lediglich ein kleiner Haufen unter dem Befehl des SS-Brigadeführers Gustav Krukenberg verlegte Mitte April aus der Prignitz in Richtung Berlin, wo sie als eine der ganz wenigen Truppen von außerhalb den just von Schukows und Konjews Armeen eingeschlossenen Kessel verstärkten. In blutigen Häuserkämpfen inmitten von Neukölln und Kreuzberg fielen dort die meisten der auf Panzerabwehr spezialisierten französischen SS-Männer – auf verlorenem Posten in einer fremden Hauptstadt.

Veit Scherzer: Sous le signe SS: Französische Freiwillige in der Waffen-SS. Verlag Veit Scherzer, Bayreuth 2018, gebunden, Abbildungen und Karten, 808 Seiten, 89 Euro