© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Alexander Kissler. Der Journalist pflegt eine besondere Methode, Politik zu hinterfragen.
Weniger ist Wahrheit
Alexander Wendt

Alexander Kissler, Autor, Kulturchef des Cicero, öffentliche Figur, ist ein Reduzierer im eigentlichen Sinn von reducere – einer, der etwas zurückführt. Schreibt oder spricht er, steuert er meist auf eine Frage zu: Wo ist einigermaßen fester Grund? 

In einer TV-Runde zur Migration zitierte der Berliner Autor einfach Grundgesetzartikel 16a, nach dem politisch Verfolgte Asyl genießen, sich aber niemand darauf berufen kann, der aus sicheren Drittstaaten einreist (und daß es sich bei der Verteilung der Antragsteller um eine europäische Aufgabe handelt). Claudia Roth fand das, wie ihr Gesicht sagte, empörend – doch fiel ihr gegen diese Rückführung auf die Verfassung kein Argument ein.

In seinem Cicero-Text über Merkels Rede zum Amri-Anschlag auf dem Breitscheidplatz schraubte Kissler mit ähnlicher Gründlichkeit die technokratischen Satzschablonen der Kanzlerin auseinander („Dinge, die nicht gut gelaufen sind, besser machen“). Um dann zu dem einen reduzierten Satz vorzustoßen, der aber nicht von ihr, sondern von ihm stammte: „Menschen sind keine Dinge.“ Daß sie, die die Dinge bekanntlich immer vom Ende her denkt, tatsächlich an diesem einen Gedanken scheitert, diese Kisslersche Feststellung wäre eine gute eingekochte Essenz der Ära Merkel. 

Auch in seinem jüngsten Buch „Widerworte“ begibt sich der Philologe auf Gemeinplätze, und zwar als Spielverderber. Über die Behauptung der Bundeszentrale für politische Bildung: „jeder hat ein Recht auf Respekt, immer und überall“ schrieb er etwa: Nein, anders als die Menschenwürde gebe es Respekt (den man nur vor etwas haben kann), nicht voraussetzungslos: „Universales Desinteresse am Menschen tönt aus dieser Phrase. Man kann sie nur aussprechen, wenn einem alles egal ist.“

Ist Kissler ein Konservativer? Wer vom Hölzchen auf den Stamm zurückführt und nach dem Begriff sucht, den es schon gab, stellt für Progressisten ein Problem dar, so viel ist richtig. Jedoch verhält sich der Autor zu individuell, um zu einer Gruppe zu gehören. Nach seiner Promotion über Rudolf Borchardt und einer Zeit als Schauspielregisseur  schrieb der 1969 in Speyer geborene Kissler für die FAZ, die Süddeutsche, betreute beim Focus das mittlerweile eingestellte Debattenressort, gelangte schließlich zum Cicero. Daß er in einem Gutteil der Medien, für die er schrieb, nicht mehr reüssieren könnte, sagt viel über die Änderung unserer Medienlandschaft.

Die Technik, Debatten durch die Methode Ockhams Messer, das alles um den Kern wegschnitzt, zu enthysterisieren, ist rar geworden. Mit ihr lassen sich keine neuen Katastrophen und Krisen behaupten, da die Rückschau zeigt, aus wie vielen Untergängen und dazugehörigen Utopien schon nichts wurde. Aber wird ein Handwerk selten, steigt auch die Anerkennung für denjenigen, der einfach weitermacht.