© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Kurden in der Zwickmühle
Erdogans Syrien-Offensive: Rußland sucht das Vakuum, das die USA hinterlassen haben, zu füllen
Marc Zoellner

Ihr Einmarsch in Ain Issa war triumphal: Vor fünf Jahren hatten die Truppen Baschar al-Assads, die Syrisch-Arabische Armee (SAA), die Kontrolle über die im äußersten Norden des Landes gelegene Kleinstadt verloren  – erst an die Extremisten des Islamischen Staats (IS), später an die kurdisch dominierte Miliz der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die von der strategisch gelegenen Siedlung den Angriff auf ar-Raqqa, die Hauptstadt des selbsternannten IS-Kalifats, führte.

 Daß zu Beginn der Woche erneut die syrische Flagge über Ain Issa weht, gilt für Syriens Machthaber von daher als gelungener Propagandacoup. Nicht nur, weil sich die Stadt der SAA kampflos ergab. Es waren überdies die Kurden selbst, die die syrische Fahne im Zentrum Ain Issas hißten – und damit ihren Traum eines autonomen Kurdenstaats wohl endgültig zu Grabe trugen.

Auch Peking übt Druck auf Ankara aus

„Der Prozeß des Verrats ist offiziell abgeschlossen“, schildert ein SDF-Veteran im Interview mit dem britischen Telegraph die Empfindungen seiner Landsleute. Vergangenen Mittwoch hatte die Türkei ihre jüngst geplante „Operation Friedensquelle“ ins Rollen gebracht. 

Ihr Ziel: Einen dreißig Kilometer tiefen Sicherheitsstreifen an der syrischen Grenze zur Türkei zu errichten, um einerseits die linksradikale „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), der enge personelle Vernetzungen zu den kurdisch-syrischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) nachgesagt werden, an weiteren Anschlägen auf türkischem Boden zu hindern. Doch Ankara geht es offen auch um Landgewinn zur Repatriierung der dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten.

Dabei ist Ain Issa  zum Mikrokosmos des Syrienkonflikts geworden. Lebten vor dem Krieg fast ausschließlich arabischstämmige Syrer in der Stadt, siedelten sich seit ihrer Einnahme durch die SDF im Juni 2015 bevorzugt kurdische Vertriebene in ihren Straßen an. Vor den Toren der Stadt finden sich mehrere provisorisch errichtete Flüchtlingscamps mit über zehntausend Menschen sowie eines der größten Gefangenenlager für IS-Terroristen und ihre Familien. 

Bis zu tausend Dschihadisten aus diesem Lager soll Medienberichten zufolge vergangenes Wochenende in den Wirren der türkischen Offensive die Flucht gelungen sein. Nur zwei Tage zuvor waren die letzten US-Soldaten aus Ain Issa abgerückt.

„Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte Frankreich, Deutschland und andere europäische Nationen, aus denen die gefangenen IS-Kämpfer stammen, dazu aufgefordert, diese zurückzunehmen; doch man wollte sie nicht wiederhaben und hat abgelehnt“, verkündete das Weiße Haus nach einem Telefonat zwischen US-Präsident Donald Trump und dessen türkischem Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. Für die gefangengenommenen IS-Kämpfer sei nun die Türkei verantwortlich.

Mit dem Beginn ihrer Operation  sieht sich die Türkei umfassender Kritik ausgesetzt. Am Montag kündigte Präsident Donald Trump Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei an, sollte sie einem Waffenstillstand nicht nachkommen. Washington habe der Türkei „kein grünes Licht gegeben, um in Syrien einzudringen“, betonte Vizepräsident Mike Pence.

Neben einem Ausfuhrstopp für Rüstungsgüter in die Türkei beinhaltet das Paket auch die Sanktionierung der privaten Vermögen Erdogans sowie dessen Verteidigungs- und Außenministers. Auch China forderte die Türkei am Dienstag zum sofortigen Stopp ihrer Militäraktionen in Syrien auf. Dagegen deutet das neue Schutzabkommen zwischen der kurdischen Autonomieregierung und Damaskus, dessen rasche Verhandlungen vom Kreml vermittelt wurden, durchaus darauf hin, daß Moskau vorab von Ankara informiert worden war. Geschickt spielt Moskau die Rolle eines Vermittlers, der weder Ankara, Damaskus noch die syrischen Kurden verprellen will.

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