© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Schmerzen durch Schmerzmittel
US-Pharmaindustrie: Opioide wie Oxycodon wurden zur führenden Einstiegsdroge / Nach Milliardengewinnen folgen nun Konkurse
Thomas Kirchner

Pablo Escobar, „El Patrón“ des Medellín-Kartells, soll zu Lebzeiten von der Legalisierung von Drogen in den USA geträumt haben. Wie einst die Alkoholschmuggler nach der Prohibition werde dann seine Rauschgiftmafia zu einem Milliardenkonzern. Doch nicht Rauschmittel wurden legalisiert, sondern legale Schmerzmittel wurden zu Drogen. Das ganz große Geld machten nicht kolumbianische Drogenbarone, sondern Pharmakonzerne. Aber die bekommen jetzt die Rechnung präsentiert und kämpfen ums Überleben.

Im Anfang des Debakels steht Johnson & Johnson, Verbrauchern eher durch Babyshampoos bekannt. 2018 verbuchte der 1886 gegründete und in New Jersey beheimatete Pharma- und Konsumgüterkonzern mit 81,6 Milliarden Dollar Umsatz 15,3 Milliarden Gewinn. Eine australische Tochter liefert seit langem Mohn an andere Pharmafirmen, die daraus Schmerzmittel herstellen.

Damit kontrolliert angebauter Mohn nicht illegal abgezweigt wird, züchtete der Australier Tony Fist 1994 den „Norman-Mohn“, der wegen seines niedrigen Morphiumgehalts für die Mafia uninteressant ist und durch besondere Substanzen Drogenfahndern seine Herkunft verrät. Doch daraus hergestellte morphiumfreie Schmerzmittel enthalten Wirkstoffe, die zu Abhängigkeit führen. Bei Patienten, die solche Schmerzmittel nehmen, liegt das Risiko, in Abhängigkeit zu geraten, bei acht bis zwölf Prozent. Bei Patienten unter 20 liegt das Risiko doppelt so hoch wie bei älteren.

Bundesstaaten und Städte klagen wegen der Kosten

Abhängigkeit von Schmerzmitteln auf Oxycodon-Basis liegt den neuen Rekordwerten Rauschmittelsüchtiger und Drogentoter in den USA zugrunde. Im Gegensatz zur Drogenwelle der achtziger und neunziger Jahre sind es nicht mehr in erster Linie Afroamerikaner in Großstadtgettos, die von der Epidemie betroffen sind, sondern weiße Männer mittleren Alters in Vororten und ländlichen Gebieten – die klassische Arbeiterklasse. Da es sich um verschreibungspflichtige Medikamente handelt, wurde schnell ein neuer Buhmann gefunden: Die Hersteller dieser Medikamente, Pharmagroßhändler und Apothekenketten werden von US-Staatsanwälten zu hohen Strafzahlungen gezwungen.

Also Firmen, bei denen es etwas zu holen gibt. Es zählt nicht, daß 80 Prozent des Mißbrauchs durch illegal erworbene Tabletten geschieht: gestohlen oder Rentnern abgekauft, die ihrerseits ganz legal ein Rezept haben und sich durch den Weiterverkauf der Tabletten ein Zubrot verdienen. Drei Viertel der Nutzer, die Tabletten illegal nehmen, haben vorher schon andere Rauschmittel genommen. Doch nur wenige Ärzte, die diese Mittel massenweise verschrieben haben, und kaum ein privater Schwarzmarktverkäufer werden belangt.

Neben Drogenopfern klagen US-Bundesstaaten sowie Städte und Gemeinden wegen der Kosten, die dem öffentlichen Gesundheitssystem durch Behandlung der Süchtigen entstanden sind, gegen die Pharmabranche. Städte und Bundesstaaten streiten jetzt schon, weil viele sich noch über die aus Sicht der Gemeinden schlechte Verteilung der Gelder aus dem 206-Milliarden-Dollar-Tabakindustrievergleich von 1998 ärgern. Die Summen dürften diesmal allerdings geringer ausfallen. Analysten halten 37 bis 50 Milliarden Dollar für das wahrscheinlichste Szenario, im schlimmsten Fall 150 Milliarden. Dann wären Konkursverfahren in der gesamten Pharmabranche wahrscheinlich.

Von Konkurs betroffen ist bisher nur Purdue Pharma, das drei Prozent der Pillen verkaufte. In einem Vergleich mit 24 Bundesstaaten zur Beilegung von 2.600 Prozessen erklärte sich die Traditionsfirma aus Connecticut zur Zahlung von zehn bis zwölf Milliarden Dollar und zur Einleitung eines Konkursverfahrens bereit. Die angloamerikanische Eigentümerfamilie Sackler wird drei Milliarden Dollar beisteuern. Das reicht einigen Staatsanwälten aber nicht, sie haben ihre Beteiligung an dem Vergleich zurückgezogen, der nun auf der Kippe steht. Mallinckrodt, Endo und Teva verkauften 90 Prozent der Pillen als billige Generika. Sie könnten im Rahmen von je drei bis neun Milliarden Dollar haften, was sie aufgrund ihres hohen Schuldenstands vor Probleme stellen und die Bilanzen auf Jahre hinaus verhageln wird.

Denn diese Firmen sind durch Käufe kleinerer Anbieter stark gewachsen. Dies ist typisch für die Struktur der Pharmabranche: Neugründungen erfinden Medikamente, die Großen spezialisieren sich auf Zulassung, Produktion und Vertrieb, weil Kosten der Zulassungsverfahren die finanziellen Möglichkeiten kleiner Betriebe sprengen. Innovation kann nur funktionieren, wenn Kleine bei Erfolg an einen finanzstarken Partner verkaufen können. Sind die Großen der Branche finanziell angeschlagen, bricht das System zusammen, neue Medikamente kommen nicht mehr zur Marktreife. Darin liegt das Risiko auch für deutsche Patienten, wenn zu hohe US-Strafen verhängt werden.

Im Vertrieb ist der US-Markt in den Händen von drei Großhändlern: Amerisource-Bergen, Cardinal Health sowie McKesson, das seit der Übernahme von Celesio auch den deutschen Pharmagroßhandel dominiert. McKesson vertrieb zeitweise 28 Prozent der Schmerztabletten. Auch wenn Großhändler kaum Rezepte oder Endabnehmer überprüfen können, sollen die drei trotzdem haften. Und so könnten auch deutsche Patienten und Krankenkassen zur Kasse gebeten werden: Ein Vergleich in Milliardenhöhe läßt sich nur finanzieren, wenn McKesson Gewinne aus dem deutschen Geschäft nicht hierzulande reinvestiert, sondern in den USA abliefert.

Johnson & Johnson verkaufte seine australischen Tochterfirmen 2016 der Private-Equity-Firma SK Capital Partners, die bisher nicht belangt wurde. Johnson & Johnson aber wurde allein für den Bundesstaat Oklahoma zur Zahlung einer halben Milliarde verurteilt.

Infos der US-Gesundheitsbehörde CDC: www.cdc.gov