© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Pankraz,
Knut Hamsun und die Literatur Norwegens

Zwei Namen haben die norwegische Literatur, Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse,  berühmt gemacht: Henrik Ibsen (1828–1906) und Knut Hamsun (1859–1952). Beide waren  zu ihrer Zeit sehr umstritten und wurden schwer angefeindet. Der Dramatiker Ibsen fühlte sich von seinen Landsleuten ein Leben lang total verkannt und emigrierte für fast dreißig Jahre nach Deutschland, Dresden und München, wo er dann seine größten Erfolge errang und zu Reichtum kam.

Knut Hamsun emigrierte zwar nicht, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aber in seiner Heimat erst unter Hausarrest gestellt, dann für einige Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und – im hohen Alter von 86 Jahren – den strengsten Verhören unterworfen und in öffentliche Acht getan. Man nahm ihm sein Vermögen weg, und kein Verleger durfte es wagen, einen seiner Romane zu drucken. Dabei hatte der Dichter nichts verbrochen. Zum Verhängnis wurden ihm jedoch seine Sympathien für das nationalsozialistische Deutschand während der Krieges.

Ein Rückblick auf die Causa Knut Hamsun jetzt zur Buchmesse mit dem Ehrengast Norwegen lohnt sich auf jeden Fall. Den Staat Norwegen gibt es ja erst seit 1905; vorher waren die Angehörigen des alten skandinavischen Volkes der „Norweger“ staatspolitisch über Jahrhunderte Bürger Dänemarks gewesen, beziehungsweise in „Personalunion“ mit Schweden eingebunden. An der Entstehung und Ausprägung des modernen Norwegens haben die zeitgenössischen Sprachmeister und Schriftsteller des 19. und 20.  Jahrhunderts direkten Anteil gehabt – und das heißt vor allem Knut Hamsun.


Während Gestalten wie Ibsen „nur“ grimmig gegen die „dänischen Entfremdungen“ polterten und sich lieber an deutschen Vorbildern aus der Romantik orientierten, ging Hamsun seinen ganz eigenen Weg, ohne dabei „vormodern“ zu bleiben, im Gegenteil. Er ließ sich auf modernste Wissenschaft ein, auf Individual- und Völkerpsychologie, wie sie gerade im Entstehen war, und seine Sprache blieb dabei dennoch hochpoetisch. Die Hamsun-Romane des frühen  20. Jahrhunderts waren, darf man ohne weiteres sagen, ein wahres Eingangstor zur literarischen Moderne, durch das alle hindurch mußten.

Hießen sie nun Thomas Mann oder Franz Kafka, Marcel Proust oder James Joyce – keine dieser Koryphäen konnte Hamsum das Wasser reichen. Er kannte die Menschen am besten und wußte ihre Schicksale am genauesten und aufwühlendsten in Sprache umzusetzen. Keinen Augenblick lang dachte er daran, dem Leben, so wie es wirklich ist, eine Idealsprache, gleichsam eine Überwirklichkeit entgegenzusetzen, wie das viele Dichter tun. Er war kein „poeta doctus“, wollte es nie sein. Wenn er schrieb, war das (ein Vergleich Thomas Manns), als würde ein eiskalter Wildbach durch turmhohe Tannenwälder rauschen. 

Hamsun selbst war das Leben, Baum unter Bäumen, von den gleichen Säften und Antrieben durchtost. Andererseits hat er, wie Walter Benjamin in seinem „Fragment über Hamsun“ von 1927 völlig zutreffend konstatiert, diesem Leben, dieser Wirklichkeit „kein Wort geglaubt“. Und so bürdete er denn, so Benjamin, „seinen Einfältigsten und Ärmsten seinen Bauern, Häuslern und Bettlern die ganze unnennbare Brüchigkeit, Kompliziertheit und Abgründigkeit ab, die unsere ‘großen’ Romanciers, die nichts wissen und nur Probleme im Kopf haben, für Fluch und Vorrecht des dekadenten Großstadtmenschen halten.“

Über keinen der Hamsun-Romane läßt sich freilich sagen, daß er darin für irgendwen Partei ergriffe. An die Seite der kleinen Häuslersleute und der Landstreicher treten die kecken „Entrepreneurs“ und „Weltumsegler“, und ihnen geschieht nicht weniger Recht oder Unrecht als jenen. Mit ihnen meldet sich eine weitere originäre Lebenskraft und Wirklichkeitskomponente zum Hamsunwort: die blinde, unbelehrbare Gier, symbolisiert im Geld, ein schier

wahnwitziger Urtrieb zum Über-sich-hinaus-Wollen, für den der Dichter die großartigsten, wahrhaft unsterbliche Gleichnisse gefunden hat.


Dieser ebenso stürmische wie beharrliche Nordmann aus den Fjorden läßt sich weder aus der Literatur noch aus der Geistesgeschichte des Abendlands insgesamt hinausmanipulieren, obwohl just

das nun schon über siebzig Jahre lang versucht wird. Konkreter gesagt: Hamsun wurde (und wird) von den hierzulande und leider auch in Norwegen herrschenden medialen Kräften nicht nach irgendeiner Richtung hin interpretiert, nicht einmal frontal beschimpft, sondern einfach totgeschwiegen.

Und um es zu wiederholen: Hamsun hat nichts verbrochen, er war weder an der von den Deutschen eingesetzten Quisling-Regierung beteiligt noch in konkrete Verbrechen verstrickt. Er hat sich, vielfältig belegbar,  bei der Besatzungsmacht wirkungsvoll für von dieser angeklagte norwegische Landsleute eingesetzt und oft gegen Maßnahmen des deutschen Statthalters Terboven protestiert. Nur eben: Bei der Abwägung der gegeneinander kämpfenden Systeme, des Kommunismus, des „angelsächsischen Plutokratismus“ und des Dritten Reiches, hielt er letzteres für das noch erträglichste Übel.

Darüber kann man natürlich streiten. Doch deshalb, also wegen abweichender Meinung, einen großen Dichter und den eigentlichen Begründer und bisherigen Gipfelpunkt der neuzeitlichen norwegischen Literatur zu kriminalisieren und mit der „damnatio memoriae“ zu belegen, ist unter der Würde demokratischer Literaturverwalter, gerade im Hinblick auf  Buchmessen.

Aber die Zeiten ändern sich. In der norwegischen Hauptstadt Oslo haben sie schon vor einigen Jahren neben der Oper ein kleines Denkmal für Hamsun aufgestellt. Und immer mehr Gemeinden im Lande benennen Straßen und Plätze nach dem legendären Erzähler. Wer für ein kälteres, der gewohnten Natur ensprechendes Klima eintritt, der will sich wohl auch ein bißchen für Knut Hamsun erwärmen.