© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Diener der Macht
Massenwahnsinn: Es ist keine Übertreibung mehr, von einem geistig-kulturellen Bürgerkrieg zu sprechen
Thorsten Hinz

Wenn die Regierung sich als unfähig erweist, die Probleme im Land anzupacken und die Regierungschefin mit der Erklärung, die Grenzen ließen sich sowieso nicht schützen, seine territoriale Integrität faktisch aufhebt; wenn der Bundestag sich in überwältigender Mehrheit nicht als Kontroll-, sondern als Akklamationsorgan versteht; wenn das Verfassungsgericht seine Verantwortlichkeit für Recht und Gesetz an eine supranationale Instanz delegiert, das nach politischer Zweckmäßigkeit entscheidet – wenn also die drei klassischen Staatsgewalten versagen, dann sind die Medien, der akademische Betrieb, die Künstler, im weitesten Sinne die mit der Gabe der Artikulationsfähigkeit ausgestatteten Intellektuellen aufgerufen, Öffentlichkeit herzustellen, als vierte, meinetwegen auch fünfte und sechste Gewalt im Staate tätig zu werden, und die drei anderen an ihre Aufgaben zu erinnern.

Und zwar nicht durch Teilnahme am parteipolitischen Geplänkel, enervierende Besserwisserei, gesinnungsethische Emphase oder juristische Donquichotterie, sondern durch strikte Objektivität, gedankliche Präzision, Faktentreue, geistige Unabhängigkeit und imaginatives Potential, das aufzeigt, daß nichts auf der Welt alternativlos ist.

Stattdessen ist 30 Jahre nach dem Mauerfall zurückgekehrt, was man damals überwunden zu haben glaubte: Staatsmedien und Staatsjournalisten, akademische Karrieristen auf der Schleimspur schlechter Politik, Staatskünstler, Staatskunst-Aktivisten und Staatskabarettisten. Ein Kartell aus – um einen Neologismus zu benutzen – Affirmanten, die den Regierenden die Richtigkeit und moralische Qualität ihres Handelns bestätigen, den Kritikern aber ihre vermeintliche Minderwertigkeit unter die Nase reiben. Der Begriff „politisch-medialer Komplex“ schließt neben Politik und Medien den akademischen und Kulturbetrieb mit ein.

Es gibt Talkshows, Tagungen, Zeitungskommentare, Resolutionen, Rundfunk- Fernseh- und Podiumsdiskussionen ohne Ende. Doch in den zwei entscheidenden Fragen: der Einwanderungs- und der Klima-Frage, gibt es keinen öffentlichen Austausch und Wettbewerb der Argumente. Was hier sich als Öffentlichkeit darstellt, ist in Wahrheit eine Instanz zur normativen, politisch korrekten Sinnstiftung und zur kalten Demonstration von Macht.

Um die Effektivität der Instanz zu erhalten, müssen permanent Schwachstellen identifiziert und ausgemerzt werden. Der Chef der Hessischen Filmförderung fiel umgehend einer Säuberung zum Opfer, nachdem sein Treffen mit dem AfD-Bundessprecher bekanntgeworden war (JF 41/19). Die Meinungs-Jakobiner stehen wiederum unter dem Druck von Super-Jakobinern. Gerade ist Mathias Döpfner, Chef des Springer-Konzerns, dessen Medien im Kampf „gegen Rechts“ an vorderster Front stehen, in ihr Visier geraten, weil er mit den blinden Flecken der Medienbranche und des Rechtsstaates ins Gericht gegangen ist.

Das rief bei Twitter den Deutschen Journalisten-Verband auf den Plan. Dieser richtete dort an den Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, dem Döpfner vorsteht, die Frage, ob dieser „nach seiner Haßtirade auf Journalisten (…) als Präsident seriöser Zeitungsverleger noch tragbar (sei)? Bei uns wachsen die Zweifel.“

Nun ist der Springer-Chef viel zu mächtig und gutsituiert, um sich von solchen Anwürfen beeindrucken zu lassen, doch bei einem lohnabhängien Journalisten oder freischaffenden Autor sieht das ganz anders aus. Uwe Tellkamp, Autor des Erfolgsromans „Der Turm“, erhielt nach seiner Kritik an Merkels Grenzöffnung vom Suhrkamp-Verlag via Twitter eine Distanzierung mitgeteilt. Im Angestelltenleben würde man das eine Abmahnung nennen.

Denunziationen sind charakteristisch für den nervösen und autoaggressiven Zustand, in dem Deutschland sich befindet. Es ist keine Übertreibung mehr, von einem geistig-kulturellen Bürgerkrieg zu sprechen. Er wird sehr einseitig geführt, denn einseitig ist auch die Verfügung über die Medien, über finanzielle Ressourcen, den Hochschulbetrieb usw. Gleiches gilt für die polizeiliche und  juristische Bewertung zugespitzter Formulierungen und von Protestformen im öffentlichen Raum, die je nach politischer Absicht erfolgt.

In diesem Rahmen wiederholt und verstärkt sich, was der französische Romancier und Philosoph Julien Benda vor über 90 Jahren in seinem gleichnamigen Klassiker den „Verrat der Intellektuellen“ nannte. Benda faßte unter „Intellektuelle“ jene zusammen, deren Aktivitäten ursprünglich „schon vom Wesen her nicht auf praktische Ziele ausgerichtet sind“, die vielmehr „ihre Befriedigung in Kunst, Wissenschaft oder metaphysischer Spekulation“ finden und sich von Rationalität, Vorurteils- und Zweckfreiheit leiten lassen. Ab dem 19. Jahrhundert aber hätten sich viele von politischen, namentlich nationalistischen Leidenschaften ergreifen und sich zu deren Dienern machen lassen.

Bendas Darstellung ist holzschnittartig, denn so eindeutig war die Trennung zwischen geistiger Arbeit und politischen Interessen und Absichten nie. Doch es macht einen Unterschied, ob das Politische der Haupt- und Anfangszweck geistiger Arbeit ist oder bloß ihre Folge, Begleiterscheinung oder Nebenwirkung.

Der Soziologe Helmut Schelsky hat analysiert, wie der moderne Intellektuelle gezielt Resonanz außerhalb seines eigentlichen Metiers anstrebt und aus der politischen Wirkung sein soziales, gesellschaftliches und ökonomisches Kapital bezieht. Ging es ihm vor fünfzig Jahren um die Kritik an der Staatsmacht, ist er jetzt mit ihr verschmolzen. Das Jahr 2015 hat den Qualitätssprung besiegelt. Eine katastrophale Entscheidung wurde getroffen, alle haben mitgemacht, nun sind sie in ihr gefangen und können ohne Prestigeverlust nicht mehr zurück. Das schweißt Politiker, Journalisten und all die anderen unauflöslich zusammen.

Gewiß, die Flüchtlings- und Klima-Romantik beschränkt sich nicht auf Deutschland, sie haben die ganze westliche Welt ergriffen. Doch „Refugees-welcome“-Jubler und fliegende Teddybären waren singuläre Spezialitäten des „hellen“ (Joachim Gauck) Deutschland. Und als am Freitag, dem 20. September, weltweit rund vier Millionen Menschen für besseren Klimaschutz auf die Straße gingen, sorgte Deutschland für 1,4 Millionen, also für mehr als ein Drittel der Teilnehmer. Die Erregungskurve und Mobilisierungsbereitschaft sind hier mit Abstand am höchsten. Somit bleibt Deutschland das Land, dessen Geschichte „in höherem Maße eine Geschichte ideologischer Konflikte und politischer Teilungen als diejenige irgendeines anderen Staates in der Welt“ ist. (Ernst Nolte)

Die Wiedervereinigung hat diesen Zustand sogar noch verhärtet. Aktuell definiert und konstituiert das offizielle, das „helle“ Deutschland sich über die Exklusion des „Dunkeldeutschland“ und seiner „Nazis“, wobei als „Nazi“ bereits gilt, wer zart darauf hinweist, daß die Probleme Afrikas, die sich aus Bevölkerungsexplosion, Bürgerkriegen und Rückständigkeit ergeben, unmöglich auf deutschem Boden gelöst werden können und daß der deutsche Einfluß auf das Klima minimal ist.

Der wütende Moral- und Schuldprotestantismus, der immer häufiger die Grenze zum Fanatismus überschreitet, ergibt sich aus der „intellektuellen Staatsgründung“ (Clemens Albrecht u.a.) der Bundesrepublik durch die Frankfurter Schule. Während die DDR orthodox marxistisch durch die Veränderung der Besitzverhältnisse die sozio-ökonomischen Wurzeln des Faschismus auszureißen versuchte und daraus ihre Existenzberechtigung ableitete, wollte die Frankfurter Schule in freudo-marxistischer Manier den „autoritären Charakter“ durch eine internalisierte, auf Dauer angelegte „Vergangenheitsbewältigung“ beseitigen, einen Rückfall in die Barbarei verhindern und gleichzeitig „den Deutschen ihre kulturelle Identität (…) retten“ (Albrecht Wellmer).

Nur beruhten beide Faschismustheorien wenn nicht auf falschen, dann auf unvollständigen Prämissen. In mehr als fünfzig Jahren zur Staatsideologie hinaufdogmatisiert und mit immer mehr institutioneller Macht verbunden, entwickelte die Frankfurter Variante eine zerstörerische Dynamik, welche die Nazi-Schnüffelei zu einer unendlichen Geschichte macht und heute nach der kulturellen Identität greift. Kant gilt bereits als halber Rassist, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man in Goethes „West-östlichen Divan“ antimuslimische Ressentiments feststellt und der Dichterfürst als heimlicher Ahnherr der Fremdenhasser identifiziert wird.

Das Musterexemplar des heutigen Intellektuellen ist der Rechtsextremismus-Experte. Er ist das Pendant zum Experten für „Wissenschaftlichen Kommunismus“, ein Fach, das an den DDR-Universitäten gelehrt wurde. Natürlich war der Kommunismus keine Wissenschaft, sondern eine Ideologie, allenfalls eine Theorie. Aber natürlich durfte der Experte seine scheinwissenschaftlichen Voraussetzungen nicht thematisieren, weil er damit sich selber, die Staatsideologie und schließlich den Staat in Frage gestellt hätten.

„Das hört nicht auf. Nie hört das auf“, lauten die Schlußsätze in Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“. Das intellektuelle Leben der Gegenwart bietet hervorragendes Anschauungsmaterial für Fallstudien zum Thema Massenwahnsinn.