© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Das falsche Opfer
Negative Gedanken: Der Kinofilm „Joker“ hat eine kontroverse Debatte ausgelöst
Björn Harms

Seit Wochen wird heftig darüber gestritten, ob der Kinofilm „Joker“ gefährlich und unmoralisch ist, ja, ob man ihn überhaupt in den Kinos zeigen sollte. Amerika erlebe derartige Gewaltorgien wie im Film „praktisch jede zweite Woche“, echauffierte sich jüngst eine Rezensentin im Time Magazin. Warum also auch noch auf der Leinwand? Der Film könnte junge, frustrierte Männer radikalisieren und in die Gewalt treiben, hieß es auch bei CNN. 

So viel ist klar: Kunstferner könnte eine Diskussion gar nicht verlaufen. Die gestreute Paranoia, der Film würde eine lauernde Armee von gestörten Jugendlichen zur Waffe greifen lassen, kann getrost ins Reich der Fabeln verwiesen werden. Worauf aber muß sich der Kinogänger wirklich einstellen? 

Seit mittlerweile dreißig Kino-Jahren lebt die Figur des Jokers seinen nihilistischen Spieltrieb in den Trümmern des amerikanischen Liberalismus aus. Schon Jack Nicholson hatte dem Batman-Gegenspieler 1989 einen besonders irren Charakter verliehen, der als grotesker Showman gegen die bürgerliche Law-and-Order-Welt rebellierte.

Heath Ledger wurde 2009 für seine Rolle als psychopathischer Joker in „The Dark Knight“ zu Recht mit einem Oscar bedacht. Seine Interpretation wirkte schon ungleich düsterer. Jared Leto hingegen machte vor drei Jahren in dem mittelmäßigen Film „Suicide Squad“ aus dem Joker eine Art Teenie-Punk.

Und während der Joker 1989 durch einen Chemieunfall entstellt wurde – er stolpert während eines Einbruchs in ein Chemikalienbad und wird so zum alles zermalmenden Gewalttäter –, wirft ihn Regisseur und Drehbuchautor Todd Phillips nun gleich in etwas viel Toxischeres: die moderne Gesellschaft an sich.

Die Handlung versetzt uns in die fiktive Stadt Gotham City im Jahr 1981. Ein verabscheuungswürdiger Ort, der kurz vor dem Kollaps steht. Verbrechen, Arbeitslosigkeit und Nieselregen prägen das Bild, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, der Frust und die Unzufriedenheit finden kaum ein Ventil. „Gibt es hier eigentlich nur noch Ratten und Müll?“, beklagt ein Radiosprecher gleich zu Beginn des Films. Untermalt wird das Ganze von den düster-schaurigen Klängen der isländischen Cellistin Hildur Guðnadóttir.

Sozialdrama eines psychisch kranken Einzelgängers

Mitten in diesem dampfenden Kessel lebt Arthur Fleck, ein von Joaquin Phoenix grandios dargestellter sensibler Außenseiter, der zusammen mit seiner Mutter Penny in einer schäbigen Unterkunft wohnt. Das Highlight ihres tristen Daseins ist die Fernsehshow von Murray Franklin (Robert de Niro), einem Late-Night-Talker der alten Schule, der seine Zuschauer mit seichten Gags durch den Abend führt.

Auch bei Arthur Fleck dreht sich vieles ums Lachen: Doch sein bizarres Gelächter, das unkontrolliert aus ihm herausbricht und durch eine neurologische Störung verursacht wird, hat Arthur zum Sonderling abgestempelt. Seine Traumata trägt er zum Therapeuten, wo er Pillen gegen seine Neurose erhält.

Notdürftig verdingt er sich als Gelegenheitsclown, der Werbung für Sonderangebote macht. Immer wieder ist der hagere Mann Anfeindungen ausgesetzt. Er wird willkürlich zusammengeschlagen, verliert seinen Job. Die ärzliche Hilfe streicht die Stadt aufgrund von Einsparungen gleich ganz zusammen. „Alles was ich habe, sind negative Gedanken“, erklärt er seiner gleichgültig wirkenden Therapeutin zur Verabschiedung. Wie lange aber läßt sich ein Mensch peinigen und demütigen, bis das innere Monster aus dem seelischen Abgrund hinaufsteigt, lautet die zentrale Frage von Phillips’ Charakterstudie. Deutsche Medien wie die Zeit phantasieren stattdessen Motive einer verlorenen Männlichkeit in den Film hinein. In einer weiteren Rezension im selben Blatt dichtete ein Gender-Studies-Professor dem Joker sogar latenten Rassismus hinzu. Was nicht verwundert: Im Grunde sehnt sich die Linke Opferrollen geradezu herbei, und Arthur Fleck ist definitiv eines. Aber als weißer, heterosexueller Mann ist er schlicht das falsche Opfer.

Gleichzeitig wirkt es absurd, darüber zu diskutieren, ob ein solcher Film überhaupt existieren darf, wenn Martin Scorsese, der ursprünglich Regie führen sollte, bereits 1976 mit „Taxi Driver“ einen ähnlichen Plot auf die Leinwand brachte. Tatsächlich streut Phillips immer wieder Anspielungen auf diesen Klassiker ein. Sein Joker entfaltet sich als Hommage an das Siebziger-Jahre-Kino, das eine Ästhetik der Nichtprivilegierten stets bevorzugte. Auch Joaquin Phoenix’ Figur stellt sich ähnlich wie Travis Bickle die simple Frage: Was stimmt hier eigentlich nicht? 

Das alles wird intelligent verpackt und psychologisch spannend erzählt, das Sozialdrama erreicht zu Recht ein großes Publikum, unter sporadischen Kinogängern wie unter Arthouse-Enthusiasten. „Was kommt heraus, wenn man einen psychisch kranken Einzelgänger mit einer Gesellschaft kreuzt, die ihn im Stich läßt und ihn wie Abfall behandelt“, brüllt der innerlich und äußerlich verwandelte Joker, den Murray Franklin schließlich in seine Talkshow einlädt, gegen Ende des Films in völliger Ekstase – um die düstere Antwort darauf selbst zu geben.

Der Film startete am 10. Oktober in den Kinos.