© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

30 Jahre nach dem Mauerfall: Westdeutschland wird zum politischen Waisenkind
Unser Platz ist in der Mitte
Antje Hermenau

Mit dem Fall der Mauer wurde ein zerbrechlicher Waffenstillstand, der Kalte Krieg, aufgekündigt, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Europa in einem merkwürdigen Gleichgewicht zu halten schien. Eine Starre, in die hinein sich eine wenig selbstbewußte Europäische Union für den Westen Europas entwickelt hatte. Und nun sehen wir: Westeuropa ist offenbar nicht, wie wir lange glaubten, bruchlos unsere gemeinsame europäische Zukunft.

Es hat selbst erhebliche Probleme, scheint unschlüssig über seine Gegenwart und seine Zukunft zu sein. Die Briten und die Franzosen, das kulturräumlich eigentliche Westeuropa, diskutieren das intensiv. Douglas Murray hat jetzt nach „Der Selbstmord Europas“ ein weiteres Buch erfolgreich auf den Markt gebracht: „Der Wahnsinn der Massen“. Michel Houllebecq hat mit „Unterwerfung“ die Verhältnisse in Frankreich in einer möglichen Zukunft beschrieben, und Christophe Guilluy hat in bestechender Weise das Frankreich der Peripherie thematisiert.

Ein Punkt war besonders interessant: sein Bezug auf die Marrons, ehemalige Sklaven, die sich in den Kolonien in die Wälder zurückzogen und dort Parallelstrukturen aufbauten. Die Einheimischen entzogen sich den übergestülpten Gesellschaftsformen der Kolonialherren. Das glaubt er heute im ländlichen Frankreich wiederzuerkennen. Die Bevölkerung zieht sich von der Regierung zurück. In Deutschland finden solche Debatten offiziell nicht statt, aber zumindest in seinem Osten kann man solche Prozesse durchaus beobachten.

Auch das östliche Mitteleuropa zögert inzwischen sehr, tiefer in die EU und den Euro einzusteigen, weil die Voraussetzungen nicht zu stimmen scheinen. Der wirtschaftliche Schwerpunkt mag in Westeuropa bleiben. Der politische wird sich zunehmend nach Mitteleuropa verlagern. Das verrückte Jahrhundert, das 20. Jahrhundert, wird im 21. Jahrhundert wieder eingerenkt. Deutschland liegt anscheinend teilnahmslos in der Mitte. Es wirkt unmündig, ja gehemmt, seine Interessen und seine Verantwortung zu definieren. Die anderen Europäer wissen nicht, wie sie mit ihm umgehen sollen. Es ist schwer, jemanden aufzuwecken, der sich schlafend stellt.

Das östliche Mitteleuropa neigt jedenfalls nicht zu einem kulturellen Selbstmord. Auch die Schweiz und Österreich scheinen resistenter. Aber Westdeutschland scheint verloren zwischen der nach dem Krieg eingegangenen Westanbindung und jahrhundertealter Tradition in Mitteleuropa. Es scheint verwaist zu sein und ohne erkennbare Identität zu existieren. Gehört es nun mit Frankreich zusammen nach Westeuropa, das über Jahrhunderte als Kolonialreich geprägt wurde? Oder gehört es zu Mitteleuropa, das über Jahrhunderte durch die Zünfte, kleinere, innovative Staaten statt größerer Reiche und den wirtschaftlichen Mittelstand geprägt wurde?

Viele Mitteleuropäer sind unzufrieden mit wesentlichen Entscheidungen in Berlin und Brüssel. Sie sehen dadurch ihre Lebens-, Wert- und Denkvorstellungen gefährdet, wenn es um Sozial- und Rechtsstaat, Nation und Demokratie geht.

Da kommt vielfach wieder zusammen, was über Jahrhunderte zusammengehörte und nur im vergangenen Jahrhundert durch den Eisernen Vorhang getrennt war: Mitteleuropa. Viele Mitteleuropäer sind unzufrieden mit wesentlichen Entscheidungen in Berlin und Brüssel. Sie sehen dadurch ihre Lebens-, Wert- und Denkvorstellungen gefährdet, wenn es um Sozial- und Rechtsstaat, Nation und Demokratie geht. Neue gesellschaftspolitische Großversuche im Rahmen der Globalisierung werden nach den Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus weithin abgelehnt. Menschen sind keine Labortiere oder Versuchsanordnungen. Es gibt eine tradierte Lebens- und Arbeitsweise in Mitteleuropa – und sie ist gut, weil sie stabil und sozial ist. So ruht auch Deutschlands Kraft in seiner Provinz.

Der Eiserne Vorhang hat aus dem mitteleuropäischen Deutschland ein westeuropäisches Land werden lassen, dessen Fetisch nach dem Faschismus – nicht zuletzt zur Beruhigung der Alliierten – offensichtlich die Europäische Union wurde: eine EU, in der sich Deutschland auflösen könnte wie ein Stück Zucker im Kaffee.

So entwickelt sich Deutschland zielgenau zum angeschlossenen Gewerbegebiet einer von Frankreich geführten lateinamerikanischen Union, und Österreich bastelt inzwischen mit der Visegrád-Gruppe an einer anderen, mehr mitteleuropäisch geprägten EU.

Timothy Garton Ash nannte Mitteleuropa einmal den „Raum des Geistes“. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine solche Dichte an Theatern und Bibliotheken. Es herrschte Wettbewerb. Und der gebar Innovation – in der Kultur wie in der Industrie. Das wiedervereinigte Deutschland ist für diesen mitteleuropäischen Kulturraum eigentlich zu groß – zumindest, wenn es zentralistisch geführt wird. Bleibt es eine Föderation mit starken Regionen, wird es zu alter Stärke in der Vielfalt zurückfinden. Falls der Westen Deutschlands kulturräumlich wieder zurückkehren will.

In Deutschland halten Sozial- und Rechtsstaat die Gesellschaft zusammen. Wird das drangegeben, ja, läßt man es zerbröseln, bleiben nur Identität in Religion oder Nation übrig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wir sind eine Tüchtigkeitsgesellschaft. Der deutsche Sozialstaat ist ein wichtiges Zukunftsversprechen. Die Regierbarkeit Deutschlands, seine Leistungsfähigkeit und seine Leistungsfreude hängen maßgeblich davon ab, daß der Sozialstaat funktioniert. Es gibt sehr viele leistungsbereite Menschen in Deutschland, da sind Hautfarbe und Muttersprache herzlich egal. Diese Menschen tragen den Sozialstaat, sie erhalten ihn und wollen, daß er auch in Zukunft funktioniert. Das entscheidende Bindeglied dieser Gesellschaft besteht in ihrer Leistungsbereitschaft, die durch den Rechtsstaat beschützt und durch den Sozialstaat belohnt wird. Kompliziert ist das nicht. Zerbricht dieses urdemokratische Bindeglied, wächst die Gefahr des Nationalismus, und der Krieg der Identitäten ist eröffnet. Dann wird aus „anders“ schnell „schlecht“.

Dabei wäre ein politisch reifes Deutschland für die Unabhängigkeit Europas jetzt unerläßlich. Es wird nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch gebraucht. Deutschland hält mit seiner Exportquote maßgeblich für Europa die Stellung im Wirtschafts- und Währungskrieg zwischen den USA, China und Europa. Das ist die Situation, und wir Deutsche müssen uns darüber klarwerden, wie wir mit ihr umgehen wollen. Klarheit über die geostrategischen Machtfragen schafft hier Klarheit für Europa.

Aber Deutschland trauert seinen sicheren Nischen nach, die ihm die Russen und die Amerikaner nach dem Krieg gebaut hatten. In denen lebten sie vom wirklichen geostrategischen Leben relativ unberührt. Es will seinen westdeutschen Biedermeier zurück und nichts von der Welt da draußen wissen.

Fast 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR kann man beobachten, wie sich in (West-)Deutschland eine europäische Enklave gebildet hat. Wie eine Insel im tosenden Meer werden hier vermeintliche Ruhe und eine andere Sichtweise angeboten als in Europa insgesamt. 

Nun, fast 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR, kann man beobachten, wie sich in (West-)Deutschland eine europäische Enklave gebildet hat. Wie eine Insel im tosenden Meer werden hier vermeintliche Ruhe und eine andere Sichtweise angeboten als in Europa insgesamt. Die unkontrollierte Migration wurde ja nicht nur in Osteuropa kritisch gesehen. Auch Westeuropa hatte sich geweigert, Flüchtlinge zu übernehmen – mit drastischen Maßnahmen wie Tunnelsperrung in Großbritannien und Ausnahmezustand in Frankreich, das bis heute Flüchtlinge an der spanischen Grenze ohne jede Gnade zurückweist.

Es ist höchste Zeit, die eigenen deutschen und die europäischen Interessen aus deutscher Sicht zu definieren und danach zu handeln. Aber Deutschland träumt weiter. Kinder hüpfen für das Klima, und erwachsene Politiker hüpfen unreif mit. Das Land verhält sich infantil. Politisch ist Deutschland, vielleicht selbstgewählt, ein Zwerg: Das steht in großem Kontrast zu seiner ökonomischen Kraft. Als mit Abstand stärkste Exportnation, die fast genausoviel weltweit exportiert wie die Vereinigten Staaten von Amerika, hält Deutschland die Stellung. Das ist aller Achtung wert, wenn man ein freies und unabhängiges Europa will.

Folgendes Szenario ist denkbar: Europa entscheidet sich, weder zu China noch zu den USA gehören zu wollen, sondern unabhängig zu bleiben. Das würden viele Mitteleuropäer befürworten. Dann wäre aber mittelfristig eine enge ökonomische Kooperation mit Rußland unverzichtbar. Ressourcen und Industrie fänden zueinander. Präsident Putin hat diesen Vorschlag vor nahezu zwei Jahrzehnten im Deutschen Bundestag gemacht. Er wurde nicht wirklich aufgegriffen. Die aktuelle Afrika-Initiative kommt viel zu spät. China hat den Kontinent quasi aufgekauft. Ressourcen für die europäische Wirtschaft werden wir da nicht in den nötigen Mengen bekommen.

Die amerikanischen Globalstrategen sehen und verstehen das. Die USA können nur zusammen mit Europa stärker sein als China. Also stärkt Präsident Trump Frankreich und Großbritannien, damit Westeuropa die Sanktionen gegen Rußland weiter unterstützt. Diese beiden Nationen fanden Rußland schon immer etwas mysteriös und dunkel. Und er stärkt die in Mitteleuropa, die im letzten Jahrhundert unter den Russen gelitten haben. Die sehen sehr skeptisch auf Rußland. Deren Angst ist berechtigt, aber es sind auch kluge und erfahrene Mitteleuropäer. Am Ende findet sich ein Weg, um mit Rußland zu kooperieren. Das war immer so.

Wollen wir Europäer unabhängig bleiben, wird es vielleicht nur so gehen. Deutschlands Rolle ist dabei entscheidend. Es hat bereits viel Vertrauen im östlichen Mitteleuropa verspielt. Sieht es sein Schicksal nicht in Mitteleuropa, sondern im Nirwana, wird es ganz Eu­ropa nicht nützen, sondern im Porzellanladen herumtapsen wie ein kraftstrotzender Teenager, der seine Kraft nicht einzusetzen weiß und wahlweise alles ungelenk zertrümmert oder furchtsam seiner Kraft wegen in der Ecke hockt, um nichts aus Versehen zu zerstören. Deutschland gehört nach Mitteleuropa. Das ist seine Mitte.






Antje Hermenau, Jahrgang 1964, ist selbständige Unternehmerin und arbeitet für den Landeswirtschaftssenat des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft Unternehmerverband Deutschlands e.V (BVMW) Sachsen. Zuvor war Hermenau Abgeordnete und Fraktionschefin der Grünen im Sächsischen Landtag sowie zehn Jahre Bundestagsabgeordnete (Haushaltsausschuß). 2014 zog sie sich von allen politischen Ämtern zurück und trat 2015 nach 25 Jahren aus der Partei aus.

Foto: „Die Europäer (Europa­politisch 4)“ von Rainer Ehrt, 2009 (v.l.n.r. Winston Churchill, Gustav Stresemann, Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, François Mitterrand, Margaret Thatcher, Helmut Kohl und Michail Gorbatschow; darüber Europa auf dem Stier und Friedrich II. von Preußen): Westdeutschland scheint orientierungslos verloren zwischen der nach dem Krieg eingegangenen Westbindung und jahrhundertealter Tradition in Mitteleuropa. Statt Biedermeier-Nischen nachzutrauern ist aber Entscheidung gefordert