© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Jenseits des Maßstabs Europa
Kolonialgeschichte soll zur Formung eines postnationalen Schuldkollektivs beitragen
Dirk Glaser

Vor hundert Jahren endete in Versailles die kurze deutsche Kolonialgeschichte. Der seit den 1880ern Jahren erworbene Besitz in Afrika und Ozeanien ging mitsamt des chinesischen Außenpostens Tsingtau in die Hände der westalliierten Siegermächte und Japans über. Seitdem ist der Versuch des wilhelminischen Kaiserreichs, sich in fernen Tropenzonen einen „Platz an der Sonne“ zu sichern, dem kollektiven Gedächtnis sukzessive entschwunden. 

Schon im Dritten Reiches erlahmte vor 1933 recht lautstarke Kolonialpropaganda, weil „Lebensraum“ nun lieber in Osteuropa zu finden sein sollte. Nach 1945 wurden in der DDR per Dekret alle vom angloamerikanischen Bombenkrieg verschonten Kolonialdenkmäler abgetragen, und die deutsche Kolonialgeschichte schrumpfte zur Fußnote im Sündenregister des imperialistischen Kapitalismus. Während sich die Bonner Republik mit diesem Erbe zwar schwerer tat, die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit aber letztlich nur in Philatelisten-Zirkeln lebendig blieb, wo Marken mit dem fetten Aufdruck „Samoa“ noch Entzücken erregten.

Mit solcher Amnesie ist es heute vorbei. Die „Rückkehr des Verdrängten“, der „Kolonialschuld“, steht auf der geschichtspolitischen Tagesordnung. Höchste Zeit daher, daß auch die Bundeszentrale für politische Bildung Flagge zeigt. So geschehen mit einem Aufsatzheft „Deutsche Kolonialgeschichte“ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 40/42). Es gibt gleich eingangs bündige Antwort auf die mit Verwunderung zu stellende Frage, warum denn seit geraumer Zeit deutsche Kolonialgeschichte medial so omnipräsent zu sein scheint, warum sie populärwissenschaftlich so intensiv bewirtschaftet wird, warum sie im Universitätsbetrieb so rasch expandiert. Nun, es sei die „immer stärker werdende globale Verflechtung und die Etablierung postkolonialer Perspektiven in den Wissenschaften“, die zu dieser Hochkonjunktur geführt habe. Also ist Kolonialgeschichte wohl ein typischer Globalisierungsgewinner.

Mit Kolonialgeschichte den Eurozentrismus überwinden

Das leuchtet ein, ist jedoch kaum mehr als ein grobes Deutungsraster. Ein halbes Dutzend Historiker ist daher um Differenzierung bemüht. So weist Rebekka Habermas (Göttingen) auf die Schubkraft hin, die die nicht allein in Deutschland „mit bislang ungekannter Intensität“ geführten Debatten über die Rückgabe von Kunstobjekten und menschlichen Überresten entfalteten. Weitere starke Impulse, denen sich Jürgen Zimmerer (Hamburg) in seinem Beitrag über „Deutschland, Namibia und der Völkermord an Herero und Nama“ widmet, gingen davon aus, daß die Republik Südafrika Namibia, die einstige Kolonie Deutsch-Südwestafrika“, 1990 fast zeitgleich mit dem Berliner Mauerfall in die Unabhängigkeit entließ. 

Seitdem sieht sich das wiedervereinigte Deutschland Reparationsforderungen für die als „Völkermord“ eingestufte militärische Niederschlagung eines Aufstands gegen die deutsche Kolonialmacht konfrontiert. Der zuletzt vor einem US-Bundesgericht ausgetragene, im März 2019 zunächst mit einem deutschen Etappensieg beendete Streit, gehe unweigerlich in die nächste Runde und werde nach Einschätzung Zimmerers, der vom federführenden Auswärtigen Amt nachgiebige „Demut, die Demut derer, die um Entschuldigung bitten“ verlangt, das Thema Kolonien nicht nur weiter als „internationales Medienereignis“ zelebrieren, sondern erheblich zum „fortgesetzten Reputationsverlust Deutschlands“ beitragen. 

Zimmerer verschweigt, daß die Bundesrepublik seit den Neunzigern überdurchschnittliche Entwicklungshilfe in Namibia leistet, das Land aber trotzdem wirtschaftlich lahmt und sich mit moralischer Erpressung eine sprudelnde Finanzquelle erschließen möchte. Was Zimmerer durchaus billigt, während eine vergleichbare Lage in Tansania, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, wo die Regierung ebenfalls einen „Völkermord“ beklagen könnte, dies aber nicht tut, seine Kritik provoziert. Tansania fordere nicht nur keine Entschädigung, es möchte sogar, wie die Offiziellen proklamieren, seine Kolonialgeschichte vergessen und ein „gesundes Verhältnis“ zu Deutschland anbahnen. 

Nicht um klingende Münze, sondern um symbolisches Kapital geht es auf einem anderen geschichtspolitischen Feld, das den Kolonialdiskurs befruchtet. Die Juniorprofessorin Ulrike Schaper (FU Berlin) möchte mit  „postkolonialer Geschichtsschreibung“ ein neues historisches Bewußtsein formen, das „jenseits des Maßstabs Europa“ liegen soll. Der Rekurs auf Kolonialgeschichte dient nur dazu, die „Dominanz europäischer Erklärungsmodelle herauszufordern“ und „Eurozentrismus, das heißt die Beurteilung der Welt nach europäischen Normen und Maßstäben zu überwinden“. 

Was an deren Stelle treten soll, an die Stelle der höchsten bislang erreichten Kultur- und Zivilisationsstufe, womöglich der kleinste gemeinsame Nenner des nomadisierenden, multifunktionellen Einheitsmenschen in der globalisierten Billiglohnökonomie, verrät die unbedarfte Dame nicht. Jedenfalls für den aktuell ohnehin nur mit Notrationen auskommenden nationalen Erinnerungshaushalt hätte ihr Credo „Deutsche Geschichte postkolonial schreiben!“ revolutionäre Konsequenzen. Denn konstituiert als Teil des neuen europäischen Schuldkollektivs, verlören die postnationalen Bundesdeutschen ihr bisher auf den Völkermord an den europäischen Juden konzentriertes historisches Selbstverständnis. 

Vertreibung nach 1945 sei „koloniale Rückwanderung“

Daß eine globalisierungskonforme „europäische Identität“ langfristig Kenntnisse in deutscher Geschichte entbehrlich macht, dies signalisiert der Aufsatz von Sebastian Conrad, Professor für Globalgeschichte an der FU Berlin. Er ernennt nicht nur posthum General Paul von Lettow-Vorbeck, den Militärbefehlshaber, zum Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, sondern schreibt gleich die preußische Geschichte „postkolonial“ um: Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, die „Ostgebiete des Deutschen Reiches“, seien von Preußen im 18. Jahrhundert annektiert worden, das Verhältnis zwischen „deutscher und einheimischer Bevölkerung“ – womit er auf eine dort nach seiner Vorstellung lebende polnische Minderheit anspielt – habe „koloniale Züge“ angenommen, so daß man die 1945 ins Werk gesetzte Vertreibung der Ostdeutschen besser als „koloniale Rückwanderung“ bezeichne, nach dem Muster der „Pieds-noirs“, die nach 1962 von Algerien nach Frankreich umsiedeln mußten. Hier erleichtert der postkoloniale Zugriff auf Vergangenheit den Sprung von der Geschichtsklitterung zur Geschichtsfälschung ganz ungemein. Fake News – ofenfrisch aus der Bundeszentrale.