© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Spiegel des deutschen Protestantismus
Von des Führers Volks-gemeinschaft zur linken Friedenbewegung: Der Historiker Benjamin Ziemann beleuchtet den streitbaren Theologen Martin Niemöller
Gernot Facius

Wer im „roten“ Hessen der späten 1950er Jahre das Wagnis einging, Kirchenpräsident Martin Niemöller wegen seiner politischen Tiraden zu kritisieren, hatte schlechte Karten. Niemöller  war eine Ikone des Pazifismus, er galt als Versöhner und Friedensaktivist – als solcher wurde er 2017 gewürdigt, als die hessen-nassauische Kirche seines 125. Geburtstages gedachte. 

Volker Jung, einer der Amtsnachfolger, würdigte Niemöller als wegweisenden evangelischen Theologen, die Generalsekretärin des Kirchentags, Ellen Überschär, sprach gar von einem Symbol für Glaubwürdigkeit. Auffallend an diesem Frankfurter Festakt: Die Redner drückten sich um die problematischen Aspekte der Vergangenheit des 1984 im gesegneten Alter von 92 Jahren Verstorbenen herum, der von Moskau mit dem Leninorden und in der Bundesrepublik mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden war. 

Nun hat Benjamin Ziemann, Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield, den von Brüchen geprägten Lebenslauf untersucht. Widerlegt wird so manche Legende. Wie viele seines Jahrgangs stand der ehemalige Marineoffizier auf der Seite der Gegner der Weimarer Republik. In seinen Predigten schwärmte Niemöller, der bereits in den 1920er Jahren die NSDAP wählte, zwar weniger von Hitler, aber sehr viel vom „Aufbruch in die Volksgemeinschaft“, den der „Führer“ propagierte. Für ihn war die Machtergreifung der Nazis ein „protestantisches Erlebnis“.  

In Opposition zum Regime geriet er erst mit der kirchlichen Neuordnung nach den Kirchenwahlen im Juli 1933, die in der autoritären Form des Führerprinzips unter Dominanz der Deutschen Christen gipfelte. Worüber man in den evangelischen Kreisen bis heute ungern spricht, das wird von Ziemann herausgearbeitet: Niemöllers schwierige Beziehung zum Judentum. Der Pastorensohn aus dem westfälischen Lippstadt war seit Ende des Ersten Weltkriegs völkischer Antisemit. Er sah die Juden als Rasse. Erst spät begann er in theologischen Kategorien zu denken. Aber den kulturellen oder gesellschaftlichen Antisemitismus hat er nicht abgelegt, „das hat ihn bis ins hohe Alter begleitet“ (Ziemann). 

Der von Niemöller angeführte „Pfarrernotbund“ setzte sich zwar für Christen jüdischer Herkunft ein, nicht aber für die von der NS-Rassenpolitik verfolgten Deutschen jüdischen Glaubens. Aufgrund seiner gesellschaftlich-kulturellen Judenfeindschaft habe sich der spätere Kirchenpräsident gegenüber seinen verfolgten jüdischen Mitbürgern indifferent verhalten, urteilt Ziemann. Trotz seines Widerspruchs gegen die Kirchenpolitik des NS-Regimes – unter anderem in direkter Konfrontation mit Hitler – und den neuheidnischen Unglauben des radikalen völkischen Flügels der NSDAP sei Niemöller in seiner nationalprotestantischen Grundeinstellung aber nicht schwankend geworden, ganz im Gegenteil. 1935 sprach er sich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und den damit verbundenen Bruch der Versailler Vertragsbestimmungen aus. 

Der Pastor rechtfertigte seine Haltung mit dem „Existenzkampf“ des deutschen Volkes. Ja, das Motiv einer besonderen Sendung der deutschen Nation blieb für Niemöller auch während der KZ-Haft, als „persönlicher Gefangener Hitlers“, prägend. Wie wäre sein weiterer Lebensweg verlaufen, wenn er den Widerstand seiner Frau überwunden und sich 1940 der katholischen Kirche angeschlossen hätte? Gute Frage. Der Autor zeigt sich überzeugt, daß die Konversionspläne mehr als das Resultat eines vorübergehenden Lagerkollers gewesen seien. Er verweist auf ein im KZ Sachsenhausen verfaßtes Manuskript  „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“. Darin kritisiert der Gefangene die in bürokratischer Routine erstarrten Landeskirchen. 

Später, in der jungen Bundesrepublik, ist von Sympathien mit der Papst-Kirche nichts mehr zu erkennen. Sein Biograph hat dafür ein psychologisches Argument parat: Niemöller sei deshalb so vehement antikatholisch aufgetreten, „weil er genau wußte, wie nah er der Konversion gewesen war“. Er ist nach 1945 wieder ganz der Kulturkämpfer alten Schlags. Eine USA-Reise 1946/47 vertiefte seine Vorbehalte gegenüber den Amerikanern, die er 1945 bezichtigt hatte, das deutsche Volk ausrotten zu wollen. Da war noch nichts von dem zu spüren, was dann in die Stuttgarter Schulderklärung der EKD einfloß. 

Sein herablassender Blick auf die USA wirkte sich auch auf seine Sicht der Bundesrepublik aus. Sie war für ihn eine von Washington und dem Vatikan oktroyierte Ordnung, eine „unheilige Allianz“. Sein Kampf gegen die Wiederbewaffnung war ein Kampf gegen die Westintegration. 

Zum Idol der jungen, von links gesteuerten „Friedensbewegung“ wurde Niemöller allerdings erst, als merkte, welche Zerstörungskraft die Wasserstoff-Bombe haben kann. An seinen Einstellungen zu Kirche und Religion lasse sich so gut wie sonst kaum irgendwo über den „fundamentalen Umbruch des religiösen Feldes im 20. Jahrhundert reflektieren“, resümiert Ziemann. Vermutlich hat er recht. Denn am Ende seines Lebens konnte sich Niemöller ein Christentum ohne Kirche durchaus vorstellen.

Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition. DVA, München 2019, gebunden, 635 Seiten, Abbildungen, 39 Euro