© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Die dritte Entdeckung der Gesellschaft
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi erörtert die Anschlußfähigkeit der Digitaltechnik an herkömm-liche Strukturen unserer modernen Öffentlichkeit
Felix Dirsch

Beschreibungen von Sozialität gibt es viele: Freizeit-, Risiko-, Multioptions-, Konsum- und Erlebnisgesellschaft sind nur einige Möglichkeiten, das komplexe Gebilde auf den Begriff zu bringen. Niklas Luhmann schloß sein dreißigjähriges Forschungsprojekt vor über zwei Dekaden mit dem zusammenfassenden Titel „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ ab. Diese Studie stellt die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme dar, ohne die es keinen analytischen Zugang zum Ganzen gibt.

Im Moment drehen sich viele aktuelle Debatten in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft um die Implementierung und Folgen der Digitalisierung. Wir stünden, so eine verbreitete Behauptung, an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, vergleichbar höchstens mit Umbrüchen, wie sie die Reformation oder die industrielle Revolution mit sich gebracht hätten.

Solche Veränderungen im großen Stil bringen mehr Befürchtungen als Hoffnungen, sei es die Angst vor einem Wegfall zahlreicher einfacher Tätigkeiten, sei es die gefühlte (und tatsächliche) Bedrohung eines „Endes der Privatheit“ durch neue Formen der Überwachung. 

Vor dem Hintergrund eines derart ins Kraut schießenden Alarmismus wirken Nassehis Analysen über den Neuigkeitswert der Digitalisierung eher nüchtern. Er arbeitet fundiert heraus, daß die Wandlungen nur möglich sind, weil die moderne Gesellschaft in all ihren komplexen Ausprägungen bereits Strukturen hervorgebracht hatte, die mit der Einteilung der Welt in „Nullen“ und „Einser“ kompatibel sind. Die Digitalisierung bietet Gesellschaft und Soziologie Gelegenheit, sich neu zu entdecken. Die Französische Revolution und die Liberalisierungsschübe der 1960er und 1970er Jahre markieren vergleichbare Zäsuren.

Schon im 18. und in beschleunigter Weise im 19. Jahrhundert existierten zahlreiche Verfahren, über Daten und Statistiken das Verhalten von Menschen zu eruieren. Schnell war gemäß der Normalverteilungskurve der Durchschnittsmensch geboren. Die gewonnenen Daten generieren Muster, die auf soziale Regelmäßigkeiten und Abweichungen von diesen hinweisen – nichts anderes, wenn auch erheblich genauer und schneller, bewirkt die auf Big Data gestützte Vermessung der Welt.

Das Buch analysiert die vielfältigen Schnittstellen von Gesellschaft und digitaler Technik. Letztere, mit ihren Brüchen zwischen Sendern und Empfängern, spiegelt exakt die Entwicklungen moderner Gesellschaft, deren fragmentierte Subsysteme nicht mehr homogenisiert werden können.

Das Medium der Gesellschaft – niemand hat dies mit so viele Verve herausgestellt wie Nassehis primärer Referenztheoretiker Luhmann – besteht aus selbstreferentieller Kommunikation. Zeichen bringen in zirkulärer Weise Zeichen hervor. Hier zeigt sich die Anschlußfähigkeit etwa digitaler Sprachsysteme an die herkömmliche Kommunikation. Die Angaben des Navigationsgerätes bringen den Autofahrer dazu, einen anderen Weg einzuschlagen als den ursprünglich geplanten. Diese Änderung erhöht wiederum den Lerneffekt des Geräts und wirkt auf den Nutzer zurück.

Ausführlich stellt der Autor neue Formen künstlicher Intelligenz dar – im Unterschied zur mechanischen Umwandlung physikalischer und chemischer Stoffe. Während solche traditionelle Technik als „funktionierende Simplifikation“ (Luhmann) beschrieben werden kann, die kalkulierbaren und regelmäßigen Verarbeitungsregeln folgt, bringen moderne kognitive Maschinen eine enorme Variabilität an Mustern, Rekombinationsmöglichkeiten, Entscheidungsfähigkeit und Reaktionen hervor. Solche neuen Problemlösungskapazitäten fordern Menschen seit den 1940er Jahren in steigendem Maße heraus. Sichtbar wird das zunehmende Konkurrenzverhältnis besonders im Turing-Test, der künstliche Intelligenz immerhin noch an menschlicher mißt. 

Trotz dieser neuen Situation stellt Nassehi keine Fragen im Sinne von „Wann übernehmen Algorithmen?“, wie nicht selten in kulturpessimistisch gefärbten Abhandlungen zu lesen. An dieser Stelle schließt er sich dem Philosophen Julian Nida-Rümelin an, der bestritten hat, daß menschliche Fähigkeiten, Wünsche oder Überzeugungen in Computermodellen eindeutig zu modellieren seien. Auch die neuen Gefahren für die Privatheit werden erörtert.

Nassehi, der schon einige Zeit zu den produktivsten Sozialwissenschaftlern des Landes zählt, schreibt dank profunder Kenntnisse in den Bereichen Technikentwicklung, Philosophie und Gesellschaftstheorie die Systemtheorie Luhmanns im digitalen Zeitalter fort. Der Rezipient erhält in Zusammenhänge Einblicke, die er sonst nirgends so fundiert und gut aufbereitet findet. Ein Namensverzeichnis vermißt der Leser jedoch.

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 352 Seiten, 26 Euro