© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Friedliche Stimmungen
Der britische Historiker Frederick Taylor untersucht die weitestgehend kriegsunwilligen Gesellschaften in Deutschland und Großbritannien 1939
Stefan Scheil

Kümmern Sie sich nicht um Hitler! Buchen Sie Ihren Urlaub!“ Diesen Slogan konnte man 1939 in der Auslage eines britischen Reisebüros finden. Ein Aufruf zur Normalität in aufgeregten Zeiten, von denen man allerdings noch nicht sicher wußte, wie extrem sie demnächst ausfallen würden. Der britische Historiker Frederick Taylor blickt auf sie zurück.

Taylor ist bekannt für originelle Veröffentlichungen zu Affären aus der Weltkriegsära und danach. Eine Geschichte der Berliner Mauer war ebenso darunter wie eine über die Inflation in der Weimarer Republik. Seine Erzählung des Jahres 1939 ist eine Mischung aus politischer Darstellung und Alltagsgeschichte geworden. Unter anderem stützt er sich auf Interviews, die im Jahr 2017 geführt wurden. Das erstaunt, denn achtzig Jahre nach den Ereignissen lebt von den unmittelbar politisch Beteiligten keiner mehr und haben sich die Erinnerungen der einfachen Zeitgenossen kaum unverändert erhalten. 

Andererseits paßt es zu dem Bild, das Taylor zu zeichnen versucht. Es ist eines von „unten“ und erklärterweise nicht unbeeinflußt von aktuellen Entwicklungen. Er sei von den weltpolitischen Ereignissen seit 2008 inspiriert und bedrückt, läßt er eingangs wissen. Man habe nach Ende des Kalten Krieges in der Meinung gelebt, die Kriegszeiten seien nun endlich vorbei. Seit zehn Jahren aber jage eine Krise die nächste und man wisse nicht, ob über einer von ihnen nicht doch einmal ein größerer Krieg  ausbrechen könnte, auch in Europa.

Mit solchen Sorgen sind wir heutigen Zeitgenossen in einer ganz und gar vergleichbaren Situation wie unsere Vorfahren 1938/39, dies ist Taylors Hauptbotschaft. Praktisch niemand will einen Krieg, alle müssen aber zusehen, wie sich Krisen entwickeln, lesen in der Zeitung, was der potentielle Feind angeblich plant und welcher Politiker dies und das gesagt haben soll. Ob das alles so stimmt und wie es zusammenhängt, kann der Nachrichtenkonsument von 2019 so wenig wissen wie der von 1939.  

Wenn nun getitelt wird, „niemand“ habe 1939 einen Krieg gewollt, drängt sich unvermeidlich die Frage auf, was Taylor zu dem vielfach hervorgehobenen, angeblichen Kriegswillen des deutschen Diktators zu sagen hat. Wollte Hitler auch nicht? In der Tat räumt Taylor zu Beginn ein, Hitler habe „womöglich“ nicht gewollt, was er bekommen habe, nämlich den europäischen und schließlich den Weltkrieg. Dem folgt allerdings eine recht konventionell erzählte Darstellung der unmittelbaren Vorkriegssituation, in der die deutsche Staatsführung zwar oft als Getriebene vorkommt. Getrieben von Deutschlands Kapital- und Rohstoffhunger vor allem. 

Dennoch schreibt Taylor die Dynamik in der Situation praktisch ausschließlich Deutschland zu. Die Briten werden von einem gutwillig-arroganten Premierminister Neville Chamberlain vertreten, der die Gefahr der Situation unterschätzt und von einem gewissen Churchill ständig vergeblich gewarnt wird. Das klingt allzu bekannt. Stalins Sowjetunion kommt bei Taylor fast nicht vor, bis sie im August 1939 als vom Westen wie von Deutschland umworbener Bündnispartner auftaucht. Polens eingenständige Ziele werden ausgeblendet; selbst die USA, die zum Jahreswechsel 1938/39 mit massiver Einmischung zur Verschärfung der europäischen Situation beitrugen, sind ihm nur wenig Erwähnung wert.

Letztlich bleibt dies also wie angekündigt ein sehr britisch-deutsches Buch, auch die geführten Interviews beschränken sich auf Personen aus diesen Ländern. Diese Auswahl ist jedoch legitim und beschert originelle Einblicke in den Alltag der Zeit. Dazu gehören die eingangs erwähnten Normalisierungsversuche des Handels ebenso wie der heute ebenfalls sattsam bekannte Typus des „Experten“, von denen sich in Britannien so mancher am Jahresanfang an der Darlegung versuchte, 1939 werde aus vielen Gründen garantiert kein Krieg ausbrechen. 

Um die Stimmung in Deutschland auszuleuchten, greift Taylor auf die Untergrundberichte der Sozialdemokratie zurück, ebenso wie auf die Berichte amtlicher deutscher Dienststellen. Die leisteten sich ein erstaunlich objektives Bild und gaben auch kritische Entwicklungen der Bevölkerungsstimmung deutlich wieder. Und diese Entwicklungen gestalteten sich aus Sicht des Regimes äußerst bedenklich, daran läßt Taylor keinen Zweifel.

Während der Tschechoslowakei-Krise im September 1938 gaben die Deutschen ihrer Diktatur in aller Deutlichkeit zu verstehen, daß sie keinen Krieg wollten. Das dröhnende Schweigen, das Hitler entgegenschlug, als er sich auf einem Balkon zeigte und eigentlich die gewohnten jubelnden Massen sehen wollte, hat ihn tief beeindruckt.

An diesem Punkt ist Taylors Buch sicher besonders aktuell und nötig. In einer Zeit, in der sich die Kollektivschuldvorwürfe an die Deutschen des Jahres 1939 regelrecht überschlagen und geradezu Teil der Staatsräson geworden sind, entwirft er ein realistisches Bild der tatsächlich geringen Verantwortung der Bevölkerung in allen Ländern, auch in Deutschland. Man hätte überall lieber den nächsten Urlaub gebucht.

Frederick Taylor: Der Krieg, den keiner wollte.  Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939. Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 432 Seiten, Abbildungen, 30 Euro