© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Erfolgskontinuitäten als Zweitaufguß
Das Porträt der „bürger-aristokratischen“ Familie der Weizsäckers des Journalisten Hans-Joachim Noacks bietet kaum Neuland abseits bereits eingetretener Pfade
Thorsten Hinz

Familiengeschichten, die das wirkliche Leben schreibt und die über mehrere Generationen reichen, finden in Deutschland ein dankbares Publikum. Wobei heute das Interesse an der bürgerlichen Leistungselite jene am Adel übersteigt. Davon zeugt die große Resonanz der Film- und Buch-Dokumentationen über die Mann-Familie und der Publikationen über den Wagner-Clan. Vier Jahre nach dem Tod von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920–2015) erscheint das Buch „Die Weizsäckers“, das von der dritten bürgeraristokratischen – und nebenbei beamtenadeligen Familie – erzählt, die Deutschland im 20. Jahrhundert herausragend mitgestaltet hat.

Der Klappentext verspricht eine exemplarische Darstellung der „Höhenflüge und Abgründe deutscher Eliten“, entstanden „auf der Grundlage langjähriger Recherchen und zum Teil bisher unbekannter Dokumente“. Der Verfasser Hans-Joachim Noack war Reporter der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und Politikchef des Spiegel. Keine guten Voraussetzungen offenbar, denn sein Buch enttäuscht. Die Recherchen beschränkten sich im wesentlichen auf die Lektüre der gleichnamigen, detail- und kenntnisreichen Familiengeschichte, die Martin Wein 1988 veröffentlicht hat, sowie auf Ulrich Völkleins banales Werk „Die Weizsäckers. Macht und Moral – Porträt einer deutschen Familie“ aus dem Jahr 2004.

Entstanden ist ein süffiger Zweit- oder Drittaufguß. Für Süffigkeit sorgt bereits die Geschichte dieser erstaunlichen Familie, deren urkundlich belegte Stammfolge sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und die durch alle Gezeitenwechsel von der Monarchie zur Weimarer Republik zum NS-Regime und zur Bundesrepublik eine sich steigernde Erfolgskontinuität aufweist. Zur Weizsäcker-Dynastie zählen Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftler, Juristen, ein württembergischer Ministerpräsident und Beinahe-Reichskanzler – der 1916 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde –, ein Staatssekretär im Auswärtigen Amt und schließlich ein Bundespräsident.

Noack breitet die Fakten professionell und mit leichter Hand aus. Um eigene Akzente zu setzen, fehlt es ihm an Psychologie, an geschichtlichem Wissen, an Hermeneutik. Die zahlreichen Spezialuntersuchungen zum Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der 1948 durch das umstrittene Urteil eines US-Tribunals zum Kriegsverbrecher gestempelt wurde, hat er nicht zur Kenntnis genommen. Er wiederholt die Fama, die 2004 durch das Pamphlet „Das Amt“ in die Welt gesetzt wurde: Weizsäcker hätte als Gesandter in der Schweiz „keine Bedenken“ gegen die Ausbürgerung Thomas Manns erhoben. Noack unterschlägt – oder weiß es nicht –, daß Weizsäcker nur die juristische, nicht die politische Bewertung des Falls oblag. Natürlich findet er die Rede, die der Sohn am 8. Mai 1985 im Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt, großartig und ignoriert ihre Widersprüche. Zwar hatte Richard von Weizsäcker eine deutsche Kollektiv- und Erbschuld abgelehnt, doch im selben Atemzug den Nachgeborenen ins Stammbuch geschrieben, daß sie von den Folgen der NS-Verbrechen nicht nur „betroffen“, sondern für sie auch „in Haftung genommen“ seien. Was doch wohl heißt, daß sie eine ererbte Schuld abzutragen hätten und im Fall der Verweigerung selber schuldig würden.

Die versprochenen Neuigkeiten sind bloß anekdotischer Natur. So habe der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) nicht wegen der unsicheren Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung 1979 auf die Präsidentschaftskandidatur verzichtet, sondern auf Weisung der 90jährigen Mutter, die befunden hatte, ihr Ältester sei schon berühmt genug und müsse dem jüngeren Bruder den Vortritt ins höchste Staatsamt lassen. 

Ein leicht lesbares Buch, das geeignet ist, lange Bahnfahrten oder Flugreisen zu verkürzen.

Hans-Joachim Noack: Die Weizsäckers. Eine deutsche Familie.  Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 432 Seiten, 28 Euro