© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Einmarsch mit Ansage
Nordsyrien: Schon vor drei Jahren kündigte Erdogan seine Sicherheitszone an
Curd-Torsten Weick

Im November 2016 präsentierte Präsident Recep Tayyip Erdogan das „Neue Sicherheitskonzept der Türkei“. Unter seiner Ägide werde das Land den Kampf gegen die PKK, „entschlossen“ weiterführen. „Wir werden unseren Kampf fortsetzen, um den nächsten Generationen eine größere und stärkere Türkei zu überlassen.“ Es gebe keine Macht, die eine Nation aufhalten könne, die den „Tod nicht fürchte“, erklärte Erdogan und fügte hinzu: „Der Kampf gegen den Terrorismus hat für uns oberste Priorität und ist nicht auf unser eigenes Land beschränkt.“ Niemand könne die Bemühungen Ankaras zur Bildung einer „terrorfreien Sicherheitszone“ in Syrien stoppen.  

Vor diesem Hintergrund geht es Erdogan darum, die von der kurdischen Partei der Demokratischen Einheit (PYD) errichtete autonome Region östlich des Euphrat samt ihrer militärischen, administrativen und politischen Struktur zu zerschlagen. An der Grenze zur Türkei, so heißt es aus Ankara, dürfe keine kurdische Autonomie entstehen, die mit dem Hauptfeind, der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in Verbindung stehe.

Im Januar 2018 konnte der türkische Präsident dann erste Erfolge liefern. Im Zuge der „Operation Olivenzweig“, so die Eigenbezeichnung der Offensive gegen die Kurdengebiete Nordsyriens, gelang es Milizen der von Ankara unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA), die kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ YPG aus der Selbstverwaltungsregion Afrin zu vertreiben. Circa 300.000 Kurden flohen in die Nachbarregion. 

In einem Telefongespräch am 24. Januar 2018 forderte US-Präsident Donald Trump Erdogan auf, seine militärischen Aktionen zu begrenzen, zivile Opfer zu vermeiden und die Zahl der Vertriebenen und Flüchtlinge nicht zu erhöhen. Parallel dazu forderte der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bekir Bozdag die Vereinigten Staaten auf, ihre Unterstützung für kurdische YPG-Kämpfer einzustellen. 

Ankara und Washington vertrauen sich nicht 

Trotz der Divergenzen um die Behandlung der YPG/SDF liefen die türkisch-amerikanischen Sondierungen um die Errichtung einer „Safe Zone“ seit Januar 2019 weiter. Wir haben „gewisse Verpflichtungen gegenüber den Menschen, die mit uns gekämpft haben“, erklärte der US-Syriensondergesandte James Jeffrey Anfang Juli beim „German Marshall Fund’s Brussels Forum“. Ohne YPG/SDF hätten „wir den IS nicht besiegt“. Deshalb wolle Washington sicherstellen, daß sie nicht in „irgendeiner Weise mißhandelt“ würden. Die Sicherheitszone sei der beste Weg, dies zu erreichen, betonte Jeffrey. Die große Frage sei jedoch: Wie tief wird die Sicherheitszone sein. 

Ankara fordert die volle Kontrolle über ein 32 Kilometer tiefes Gebiet, das sich vom Euphrat bis zur syrisch-türkisch-irakischen Grenze erstreckt. Die US-Seite schlug vor, daß kurdische Kämpfer aus einem fünf bis 14 Kilometer tiefen Streifen abziehen müßten. Gemeinsame Patrouillen sollten dies überwachen.

Mitte Juli platzte Außenminister Mevlüt Çavusoglu der Kragen. Neue US-Vorschläge für eine sichere Zone in Nordsyrien führten nicht weiter, so der AKP-Politiker. Die Geduld Ankaras sei am Ende. Gebe es keine Fortschritte, werde die Türkei ihre militärisch „grenzüberschreitende Arbeit aufnehmen“.

Am 8. August schien dann der Durchbruch nah. Zuvor hatten sich türkische Militärbeamte und ihre US-Pendants darauf verständigt, daß die Sicherheitszone in Nordsyrien ein „Friedenskorridor“ für vertriebene Syrer sein solle. Am 25. August patrouillierten türkische und US-Soldaten in der syrischen Stadt Tal Abyad.

Doch das gemeinsame Vorgehen erwies sich als äußerst brüchig. Anfang September warnte Präsident Erdogan davor, daß die Türkei die Dinge selbst in die Hand nehmen würde, wenn es bis Ende September keine konkreten Fortschritte mit Washington gebe. 

Am 9. Oktober brachte die Türkei ihre lange angekündigte „Operation Friedensquelle“ ins Rollen. Kurz zuvor hatte Präsident Trump via Twitter den Abzug von 50 US-Soldaten aus Manbidsch angekündigt. Am 14. Oktober erhöhte Trump den Druck und drohte Ankara mit Wirtschaftssanktionen, sollte es der Forderung nach einem Waffenstillstand nicht nachkommen. Vor allem müsse die Türkei dem Schutz von Zivilisten, insbesondere von gefährdeten ethnischen und religiösen Minderheiten im Nordosten Syriens, Vorrang einräumen. Washington habe der Türkei „kein grünes Licht gegeben, um in Syrien einzudringen“, betonte Vizepräsident Mike Pence.





Türkei

Die Verlustrate hält sich in Grenzen: Nur fünf gefallene Soldaten vermeldeten die  türkischen Streitkräfte seit Beginn der „Operation Friedensquelle”. Kein Wunder, denn einen Großteil des gezielten Einsatzes in Syrien führt die Freie Syrische Armee (FSA), eine aus syrischen Arabern und Turkmenen rekrutierte Miliz mit rund 35.000 Mitgliedern, die sich Ende 2017 in den bereits von der Türkei besetzten Nordwestregionen Syriens gegründet hatte. Mit Erdogans Ankündigung einer weiteren Offensive schloß sich die FSA mit der um Idlib stationierten Nationalen Befreiungsfront (NFL) zusammen, womit sie ihre Schlagkraft quasi über Nacht verdreifachen konnte.

.Für die Türkei ist das Bündnis mit der FSA ein Spiel mit dem Feuer: Immerhin finden sich in deren Reihen nicht nur moderate Oppositionskräfte, sondern auch Tausende islamische Extremisten beispielsweise der Islamischen Bewegung der freien Männer der Levante (Ahrar Al-Scham) sowie der teils salafistisch ausgerichteten Levante-Front. Doch für Erdogan, der sich innenpolitisch keine horrenden Verluste an eigenen Soldaten leisten kann, ist ihr Einsatz unabdingbar. Schließlich hat auch der türkische Präsident sich speziell vor der wachsamen Opposition zu rechtfertigen. (mz)





USA

Durch ein Bombardement aus Obst, Dreck und Steinen, die von wütenden kurdischen Jugendlichen auf die Kolonne geworfen wurden, hatte sich der gut hundert gepanzerte Wagen lange Konvoi der US-Armee auf seinem Weg in Richtung irakischer Grenze am Montag morgen in Qamischli zu kämpfen. Der plötzliche Teilabzug der US-Amerikaner traf die ehemaligen kurdischen Verbündeten besonders hart und überraschend. Zwar hatte US-Präsident Donald Trump die Räumung der US-Basen in den syrischen Kurdengebieten bereits im Dezember angekündigt. Doch ohne entsprechende schutzsichernde Vereinbarungen mit der Türkei sowie den anderen Nato-Partnern glaubten führende kurdische Politiker bislang, es bliebe ihnen noch Spielraum, die US-Mission beizubehalten. Dabei hatte Trump lediglich gehalten, was er im Wahlkampf 2016 versprach: der auch in den USA immer weniger populären Interventionspolitik seiner Vorgänger in die Konfliktherde des Nahen und Mittleren Ostens ein Ende zu setzen. Seine Anhänger jubeln. Harsche Kritik folgt hingegen sowohl von seiten der oppositionellen Demokraten als auch von den Hardlinern unter den Republikanern. „Ein überstürzter Rückzug der US-Truppen aus Syrien nützt nur Rußland, dem Iran und Assad”, äußerte jüngst Mitch McConnell, republikanischer Mehrheitsführer im Senat. Tatsächlich scheint Trumps Entscheidung, genau wie bei Erdogan, vor allem innenpolitisch motiviert zu sein. (mz)





Rußland

Fünf Tage Waffenstillstand: Noch am Wochenende nutzten weit über tausend Milizionäre der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), der kurdisch dominierten Milizen im Norden Syriens, begleitet von unzähligen zivilen Flüchtlingen, die Gunst der Kampfpause, um ihre Stellungen an der türkischen Grenze zu räumen und sich weiter südlich neu zu formieren. Gleichzeitig zogen neue Truppen ins Land – Soldaten der Syrisch-Arabischen Armee (SAA), die Truppen des Machthabers Baschar al-Assad, die am Montag in der Grenzstadt Kobane symbolisch die russische Flagge hißten. Nach der Stadt Manbidsch, in welcher bereits seit 15. Oktober russische und syrische Flaggen wehen, war Kobane damit der zweite große Militärerfolg der Interventionskräfte Moskaus und Damaskus‘ binnen weniger Tage. „Erdogan weiß jetzt, daß die USA ein externer Faktor im Syrienkonflikt sind, Rußland hingegen ein interner Faktor”, erläuterte Fyodor Lukyanow, Chefredakteur der renommierten Zeitschrift Russia in Global Affairs, das gemeinsame militärische Vorgehen des Kreml mit Damaskus im Interview mit der russischen Agentur TASS. „Keine ernsthafte militärische Operation kann mehr durchgeführt werden, die Moskau entgegenwirkt.” Seit September 2015 kämpfen russische Truppen auf seiten Assads. Einer türkischen Sicherheitszone steht Moskau eher wohlwollend gegenüber – immerhin gewährt der türkische Einmarsch der SAA, einen Großteil der bislang autonomen Kurdengebiete auf friedlichem Weg neu zu besetzen. (mz)





Europäische Union

Mit einer Zuschauerrolle gibt sich die EU derzeit im Syrienkonflikt zufrieden. Zwar konstatierte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, die türkische Militäroffensive sei „eine Invasion, die mit nichts im internationalen Recht zu rechtfertigen” sei. Sein Vorstoß eines EU-weiten Waffenembargos gegen die Türkei, der unter anderem von Deutschland und Frankreich unterstützt wurde, war jedoch spätestens nach dem EU-Gipfel vom vergangenen Freitag vom Tisch. Ein Stopp von  Waffenlieferung würde nur „auf freiwilliger Basis“ erfolgen, verlautete es am Wochenende aus Brüssel.

Als gescheitert erwies sich auch eine generelle Verurteilung der türkischen Militäroperation in den syrischen Kurdengebieten. Mit Ungarn fand der türkische Präsident sogar einen offenen Fürsprecher. Budapest präferiere die Pläne Ankaras einer Wiederansiedelung der in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge in der neu zu errichtenden Schutzzone, um zu verhindern, daß mehrere hunderttausend illegale Migranten an der Südgrenze Ungarns auftauchen”, wie Ungarns Außenminister Peter Szijjarto mahnte. In der EU, die die Türkei mit bislang sechs Milliarden Euro in Flüchtlingsfragen unterstützt, stößt Erdogans Vorhaben auf harsche Kritik, da ethnische Säuberungen zu Lasten der Kurden befürchtet werden. Hingegen verständigten sich die EU-Außenminister vergangenen Freitag auf weitere finanzielle Zuschüsse für die weiter in der Türkei verbleibenden Flüchtlinge. (mz)