© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/19 / 01. November 2019

Neue politische Spielräume
Infrastruktur: Investitionsfonds auf Kredit – Gesamtstaatlicher Sonderhaushalt abseits der Schuldenbremse?
Dirk Meyer

Viele Diäten scheitern. Warum? Diät bedeutet „Lebensführung“ oder „Lebensweise“. Sie hat mit einer nur zeitweisen Ernährungsumstellung zur Gewichtsreduktion wenig gemein. Ähnlich scheint es der nationalen Schuldenbremse zu ergehen. Nach einer zehnjährigen Übergangsphase soll sie 2020 erstmals voll angewendet werden – doch das wird nicht nur von Grünen-, SPD- und Linken-Politikern, dem DGB oder dem gewerkschaftsnahem „Wirtschaftsweisen“ Achim Truger, sondern auch zunehmend von Unternehmervertretern in Frage gestellt.

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln verlangt sogar einen 450 Milliarden Euro schweren „Investitionsfonds für Deutschland“. Dessen Kernelement ist ein Sondervermögen des Bundes, in das die Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen ausgelagert werden sollen. Der Knackpunkt: Indem diese über neue Kredite abseits des laufenden Bundeshaushaltes finanziert werden, würde die Schuldenbremse umgangen.

Gute Argumente sprechen dafür

Die Schuldenbremse wurde bislang als Schutz gegen den Überbietungswettbewerb politischer Forderungen angesehen. Aber nur 64 von 120 befragten Wirtschaftsprofessoren sprachen sich im 25. Ökonomenpanel von Ifo-Institut und FAZ für die Beibehaltung der Schuldenregel aus. Die IW-Unterstützer bringen jedoch gute Argumente ins Spiel. So würde die „Schwarze Null“ zum Mantra und verhindere die gebotene Flexibilität, gerade bei drohender konjunktureller Abschwächung. Hiervor warnt auch der Sachverständigenrats in seinem Herbstgutachten, betont allerdings eine hinreichend flexible Schuldenbremse.

Da der Bund zur Zeit Kredit zu Negativzinsen erhält – bei einer Million Euro bekommt der Finanzminister 6.000 Euro obendrauf – scheint die Schuldenaufnahme quasi selbstfinanzierend. Zudem hat die bisherige „Diät“ Spielräume eröffnet: Die Schuldenquote ist von 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP, 2010) auf aktuell 59,2 Prozent und so unter die Maastricht-Grenze gesunken. Daß ein erheblicher Infrastrukturbedarf besteht, zeigt nicht nur die Statistik mit einem Absinken der investiven Ausgaben am BIP seit 2008 von 2,40 auf 2,15 Prozent (2016). Langsames Internet abseits der Städte oder marode Schulen, Universitäten, Straßen und Brücken sind nur einige Beispiele.

Die Leitidee der Schuldenbremse ist ein ausgeglichenes Budget: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“, heißt es in Artikel 109 des Grundgesetzes. Ausdrücklich zugelassen wird ein „strukturelles“ Defizit des Bundes von 0,35 Prozent des BIP, das derzeit zwölf Milliarden Euro entspricht. Sodann können die konjunkturellen Etatauswirkungen infolge sinkender oder steigender Steuereinnahmen berücksichtigt werden. Im Boom muß gespart werden, in der Rezession können mehr Kredite aufgenommen werden. Weitere Ausnahmen bestehen bei Naturkatastrophen und Notsituationen außerhalb einer staatlichen Kontrolle.

Wenig bekannt ist das Kontrollkonto der Schuldenbremse, auf dem Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der zulässigen Kreditobergrenze erfaßt werden (Art. 115 Abs. 2 GG). Abweichend von der bis 2010 angewandten Schuldenregel vermeidet das Kontrollkonto, daß die in der Abschwungphase zusätzlich aufgenommenen Kredite nicht getilgt werden. Für die Jahre 2016 bis 2018 weist dieses Konto einen Überschuß von 40 Milliarden Euro auf. Es wurde mehr gespart als die Schuldenbremse vorgab.

Zusammen mit dem strukturellen Spielraum von zwölf Milliarden Euro wäre ein zusätzliches Investitionsvolumen in Höhe von 52 Milliarden Euro sofort finanzierbar. IW-Direktor Michael Hüther geht dies nicht weit genug. Der Ökonom schlägt einen Investitionsfonds von 450 Milliarden Euro vor, verteilt auf zehn Jahre à 45 Milliarden Euro. Dies entspricht knapp dem Vierfachen der Zwölf-Milliarden-Obergrenze – und das ist eben ein Schattenhaushalt.

Willkürliche Umgehung der Parlamentskontrolle?

Sonderetats sind Nebenkassen. Sie bedürfen einer besonderen Rechtfertigung, die eine willkürliche Umgehung der ordentlichen Haushalte verhindern soll. Angesichts begrenzter Kassen haben sie Hochkonjunktur, um politische Leitthemen wie Klimawandel, demographischer Wandel und Rente sowie die Modernisierung einer in die Jahre gekommenen Infrastruktur materiell mit erheblichen Mitteln auf die Sprünge zu helfen. Beispiele sind der 2011 errichtete Energie- und Klimafonds (EKF) und der ebenfalls diskutierte „Bürgerfonds“ des Ifo-Instituts, der Zinsgewinne aus kreditfinanzierten Aktienkäufen für die Renten zum Ziel hat (JF 23/19).

Die Zweckbindung von Sondervermögen widerspricht dem Gesamtdeckungsprinzip, nach dem sämtliche Einnahmen die gesamten Ausgaben decken müssen. Hintergrund sind die Flexibilität und die Gleichwertigkeit aller Staatszwecke. Es besteht die Gefahr einer mangelnden Transparenz und Verwendungskontrolle. So schlägt Hüther einen „Investitions- und Innovationsrat“ zur Projektsteuerung vor, dem die Finanzminister aus Bund und Ländern angehören sollen. Dies würde die Parlamente mit ihrem Budgetrecht entmachten. Zudem droht bei einem gesamtstaatlichen Investitionshaushalt das föderative Element zu Lasten der Eigenständigkeit von Ländern und Kommunen Schaden zu nehmen.

Der aus gescheiterten sozialistischen Staatswirtschaften entlehnte „Rätebegriff“ kommt nicht von ungefähr, stellt doch dieses Gremium die zukünftige Machtzentrale einer zentralen Innovations- und Investitionssteuerung dar – Fehlsteuerungen mit eingeschlossen. Es ist eine „Anmaßung von Wissen“ staatlicher Entscheidungsträger, die zielführenden Technologien der Zukunft kennen zu wollen. Ein Beispiel dafür das aktuelle Impulspapier der Grünen „In die Zukunft investieren“ vom 5. September, in dem sie, ähnlich wie das IW, einen Bundesinvestitionsfonds bei Lockerung der Schuldenbremse vorschlagen.

Darin identifiziert die kleinste Oppositionspartei im Bundestag förderungswürdige Technologien wie eine „Ladesäuleninfrastruktur“ und eine „Förderung von E-Mobilität, Forschung an neuer Wasserstoff-Antriebstechnik für die Stahlerzeugung und die chemische Industrie, für die Entwicklung von klimafreundlichen Schiffen, Bahnen, Lastwagen oder Flugzeugen“ sowie „E-Highway-Strecken.“ Aber was passiert, wenn sich Batterieautos als Flop herausstellen? Dann hätte dieser Fonds den Beschleuniger dafür geliefert, daß private, öffentlich geförderte Investoren aufspringen, um neben dem öffentlichen auch noch privates Kapital zu versenken.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.





Investitionsfonds für Deutschland

Die Linken-Bundestagsfraktion will die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz streichen und durch eine Regelung ersetzen, „wonach die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen“. Dabei wird unter anderem auf Michael Hüther verwiesen, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der ebenfalls eine „innovations- und wachstumspolitische Öffnung der Schuldenbremse“ verlangt habe. Konkretisiert wird der 450 Milliarden Euro schwere „Investitionsfonds für Deutschland“ im aktuellen IW-Policy Paper (10/19): „Die Behinderung unternehmerischen Handelns durch mangelhafte oder sogar fehlende Infrastruktur ist vielfach belegt“, sagt das IW. Doch die „zu identifizierenden Investitionsbedarfe“ seien wegen der Schuldenbremse unfinanzierbar. Der Investitionsfonds sei nicht konjunktur-, sondern wachstumspolitisch motiviert. Er würde rechtzeitig kommen, „um konjunkturelle Impulse im Vorfeld einer drohenden Rezession zu geben“.

 iwkoeln.de/