© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/19 / 01. November 2019

Der 22. Juni 1941 in der aktuellen russischen Militärgeschichtsforschung
24 Stunden
Jürgen W. Schmidt

Wer sich heute in Deutschland als Historiker positiv über Wiktor Suworow und dessen vor 30 Jahren erschienenes Buch „Der Eisbrecher“ äußern würde, hätte schlechte Karten. Er würde zweifellos als „Spinner“ oder gar als „Revisionist“ betrachtet werden, der Hitler exkulpieren wolle. Der einzige Historiker in Deutschland, der das in den letzten Jahren versuchte, war Bogdan Musial mit seinem Buch „Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen“ (JF 17/08). Musial wurde seinerzeit nicht ernst genommen und heftig kritisiert.

Suworow hat seine Schwächen. Er schrieb seinerzeit eine reine Literaturarbeit, notwendigerweise fehlten ihm alle dokumentarischen Belege. Auch war sich Suworow wohl selbst nicht ganz klar, ob Stalin nun im Juli 1941 oder erst 1942 oder gar erst 1943 angreifen wollte. Nach dem Zerfall der Sowjet­union ist man in Rußland am Thema drangeblieben, und russische Historiker besonders der mittleren und jüngeren Generation haben erbittert für und wider gestritten und dabei viel neues Material an den Tag gebracht. Mangels sprachlichen Zugangs wird dieses in Deutschland (aber nicht nur hier) nur leider kaum, eigentlich überhaupt nicht gewürdigt.

Diese russische militärhistorische Strömung der „Suworowisten“ ist zwar in der russischen Militärgeschichtsschreibung (noch) nicht „Mainstream“, aber schon ziemlich kräftig geworden. Man könnte hier viele militärhistorische Bücher nennen, doch möchte ich mich auf die zwei russischen Militärhistoriker beschränken, welche ich für die fruchtbringendsten und geistreichsten halte, nämlich Aleksej Isaew und Mark Solonin. Isaew ist ein „Ziehkind“ des ranghöchsten russischen Militärhistorikers, Armeegeneral Gareew und hat deshalb einen deutlich besseren Aktenzugang als Solonin. Solonin hingegen ist der Mann mit der „besseren Schreibe“ und der besseren Analyse. Beide ergänzen sich gut, weil jeder seine speziellen Forschungsschwerpunkte hat.

Aleksej Isaew, Jahrgang 1974, versteht sich bemerkenswerterweise selbst als „Antisuworowist“, obwohl er de facto einer ist. Bei Isaew beziehe ich mich vor allem auf sein beeindruckendes 700-Seiten-Werk „Das Wunder der Grenzschlacht. Was geschah eigentlich im Juni 1941?“ (JF 44/13). Hier versucht Isaew die für die Sowjetunion völlig vermurksten Grenzschlachten von 1941 zu erklären, weil allein schon die 1. Strategische Staffel der Roten Armee an Menschen, Flugzeugen, Panzern und Kanonen der sie am 22. Juni 1941 angreifenden Wehrmacht deutlich überlegen war. Der wertvollste Teil jenes Buches ist allerdings der, in welchem Isaew im Gegensatz zum Rest des Buches keinerlei Fußnoten und Aktennummern angab, als er auf die Kriegsplanungen der sowjetischen Grenzmilitärbezirke und die strategische Grundidee der sowjetischen militärischen Planungen zu sprechen kam. Demzufolge waren die sowjetischen Planungen eindeutig offensiv und die Truppenaufstellung eindeutig für den Angriff gedacht.

Solonin, Jahrgang 1958, der seit 2016 in Estland lebt, hat gleichfalls viele Aktenstudien getrieben, wie seine Fußnoten beweisen, aber er hat trotzdem nur den Zugang eines „normalen“ russischen Historikers, keineswegs so privilegiert wie der im Institut für Militärgeschichte des russischen Generalstabs tätige Isaew. Zum Ausgleich verfügt Solonin über eine geradezu stupende Kenntnis aller gedruckt vorliegenden sowjetischen Dokumente zum Jahr 1941, zugleich ist er ein messerscharfer Logiker.

Solonin kann belegen, daß der Tag der offiziellen sowjetischen, nicht der bereits ab Mai 1941 laufenden heimlichen, Mobilmachung schon vor der deutschen Aggression auf den 23. Juni 1941 terminiert war. Den Angriff hatte Stalin auf den 1. Juli vorgezogen.

Sein wichtigstes Buch ist das 500-Seiten-Werk „23. Juni: ‘Tag M’“ (Moskau 2019), wobei „M“ für Mobilmachung steht. Solonin arbeitet stets exakt, und bei ihm ist buchstäblich jede Angabe mit einer Fußnote zwecks Akten- bzw. Literaturnachweis versehen. In seinem erwähnten Hauptwerk trennt er immer scharf das durch ihn dokumentarisch Beweisbare und das von ihm auf Grundlage von Indizien hypothetisch Angenommene.

Solonin geht gleich Isaew davon aus, daß die sowjetischen Militärplanungen offensiv waren. Dabei räumt er ein, daß man natürlich auch Verteidigungsaufgaben offensiv lösen kann, wie das Beispiel Israel belegt. Trotzdem möchte er die von Stalin beabsichtigten militärischen Handlungen gegenüber Deutschland nicht als „Verteidigung“ qualifizieren, weil Stalin vorher gegenüber Finnland und Polen ganz ähnlich operierte. Solonin geht davon aus, daß weder Stalin noch Hitler bis zum 22. Juni 1941 von den konkreten Kriegsplanungen des jeweils anderen dokumentarische Kenntnis besaßen. Bei Hitler leuchtet das ein. Bei Stalin ist das ebenso, wenngleich das häufig anders gesehen wird. Stalin lag der Plan „Barbarossa“ nicht im Original vor, nicht einmal in Auszügen. Er bekam von seinem Nachrichtendienst nur wahrscheinliche Angriffsdaten vorgelegt, mögliche Angriffsrichtungen und mögliche deutsche Truppenstärken, die von Informanten herrührten, welche von den eigentlichen deutschen militärischen Planungen nur Kenntnis aus zweiter Hand besaßen.

Gerade auf die Entwicklung der realen Stärke der deutschen und sowjetischen Truppen an der Grenze von Januar bis Juni 1941 richtet Solonin als erstes sein Augenmerk. Ähnlich wie Isaew, jedoch in den Details viel exakter, weist Solonin nach, daß Hitler selbst noch am 22. Juni 1941 an Menschen, Material und teilweise in der Güte der Technik (Panzer und Artillerie) den sowjetischen Truppen in den Grenzmilitärbezirken erheblich unterlegen war, folglich nach militärischen Regeln niemals hätte angreifen dürfen. Deshalb nahm Stalin den Hitlerschen Truppenaufmarsch auch nicht sonderlich ernst.

Außerdem lief, von Hitler unbemerkt, seit Mai 1941 in der Sowjet­union eine gedeckte Mobilmachung. Die im Mai einberufenen 800.000 Reservisten dienten nicht etwa zu ihrer Qualifizierung, sondern waren einzig mit dem Ziel einberufen worden, die Divisionen und Korps der 1. Strategischen Staffel an der Grenze vor Kampfbeginn auf Kriegsstärke zu bringen.

Neu und interessant sind Solonins Betrachtungen über den Zeitpunkt des geplanten Stalinschen Angriffs gegen Deutschland. Trotz der vorhandenen (und in Rußland sogar teilweise publizierten) sowjetischen Planungsdokumente kann Solonin bezüglich der Absichten Stalins fast immer nur Indizienbeweise führen. Diese zeugen aber von Logik und scharfer Analyse und sind, soweit es möglich ist, durch Fußnoten belegt. Demzufolge ging Stalin noch zu Beginn des Jahres 1941 fest davon aus, erst 1942 gegen Deutschland militärisch anzutreten. Deshalb plante er für 1941 größere Truppenneuaufstellungen, Umrüstungen in der Bewaffnung und die Verbesserung der Truppendislokation für den Angriff.

Irgendwann zwischem dem  6. April und dem 5. Mai 1941 muß Stalin sich aus bislang unbekannten Gründen zu einem Angreifen im Jahr 1941, konkret zum 1. August 1941, entschlossen haben. Aus bislang ebenso unbekannten Gründen beschleunigte Stalin schließlich Anfang Juni 1941 seinen Plan und zog den Angriff auf den 1. Juli vor. Dabei war der Tag der offiziellen sowjetischen, nicht der bereits ab Mai 1941 laufenden heimlichen, Mobilmachung schon vor der deutschen Aggression auf den 23. Juni 1941 terminiert, wie Solonin anhand von Dokumenten belegen kann. Als jedoch am 21. Juni 1941 der sowjetische Generalstabschef Schukow und Verteidigungsvolkskommissar Timoschenko in höchster Not Stalin aufsuchten, um ihre Befürchtungen wegen eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs zu äußern, geriet Stalin in einen unerwarteten, ihm unerwünschten Zugzwang.

Gemäß Solonin, der hier einen trefflichen Indizienbeweis führt, war nämlich höchstwahrscheinlich von Stalin beabsichtigt, ausgerechnet am 22. Juni 1941 durch einen vorgeblichen Angriff „deutscher“ Flugzeuge auf eine sowjetische Grenzstadt im Westlichen Militärbezirk, höchstwahrscheinlich auf Grodno, einen propagandistischen Kriegsgrund zu schaffen. Diesem angeblichen deutschen Luftangriff wäre noch am selben 22. Juni ein massiver sowjetischer Präventivschlag aus der Luft auf erkannte deutsche Truppenmassierungen und die Verkehrsknotenpunkte im Raum Ostpreußen und Polen gefolgt. Am 23. Juni wäre dann offiziell die Mobilmachung der Sowjetunion wegen des „deutschen Luftangriffs“ erklärt worden und ab dem 1. Juli eine ganz massive Offensive der Roten Armee in Stärke von mindestens 3,5 Millionen Mann mit 12.000 Panzern und 11.000 Flugzeugen in Richtung Deutschland angelaufen.

Hitler und die Wehrmachtführung hatten von den in der Sowjet­union vor dem 22. Juni 1941 ablaufenden militärischen und politischen Entscheidungen keinerlei Kenntnis. Von einem „Präventivschlag“ Hitlers kann man also unmöglich sprechen. 

Dadurch, daß die eigenen Militärs am Abend des 21. Juni 1941 erhebliche Befürchtungen vor einem deutschen Angriff äußerten, geriet Stalin in Bedrängnis. Man hätte zwar problemlos mit zwei Worten den sofortigen Angriffsbefehl geben können, die Planungen lagen ja vor. Aber das hätte dann ohne einen propagandistischen Kriegsgrund erfolgen müssen, der jedoch in weniger als 24 Stunden durch den inszenierten Luftangriff zuverlässig zu erwarten war. Also gab Stalin jene auf den ersten Blick kaum glaublich scheinenden Anweisungen aus, wie: „Auf deutsche Provokationen nicht hereinfallen. Sich vom Waffengebrauch möglichst zurückhalten usw.“

Weil Stalin gemäß Solonin den Krieg gegen Deutschland selbstbestimmt beginnen wollte und, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, Hitler ihm anscheinend um weniger als 24 Stunden zuvorkam, geriet die gewaltige sowjetische Angriffsmaschinerie an der Westgrenze in unerhörte Schwierigkeiten und wurde in den Grenzschlachten fast völlig zerschlagen. Das Überleben der Sowjetunion rettete nur die seit Mai 1941 gedeckt angelaufene, heimliche Mobilmachung, mitsamt dem Umstand, daß die 2. Strategische Staffel der Roten Armee, wenngleich aus anderer Ursache, schon Wochen vor dem 22. Juni 1941 per Bahn in Richtung Westen unterwegs war.

Das ist in Kurzform der Inhalt der aktuellen Diskussion in Rußland zum Juni 1941. Die „Suworowisten“ sind im siegreichen Vorgehen begriffen, und es tauchen immer mehr Fakten und Dokumente auf, die deren Auffassungen als plausibel und diskussionswürdig erscheinen lassen. Die schwache Stelle der „Suworowisten“ liegt aktuell darin, daß sie bezüglich der intendierten Absichten Stalins stets nur mit Indiziennachweisen arbeiten und sich nicht auf konkrete Dokumente mit Stalins Unterschrift beziehen können. Zudem können sie die politischen Hintergründe der von ihnen behaupteten Handlungen Stalins im Mai/Juni 1941 (noch) nicht zuverlässig erklären. Es ist allerdings zweifelhaft, ob beim überaus vorsichtigen Stalin solche beweiskräftigen schriftlichen „Dokumente“ je existiert haben bzw. ob sie das Jahr 1941 oder seinen Tod 1953 überdauerten. Allerdings beweisen das langjährige Leugnen des „Nichtangriffspaktes“ von 1939 und der Fall Katyn, daß man in der Sowjetunion (und heute in Rußland) regierungsseitig notfalls die Wahrheit bis aufs Messer abstreitet und den Archivzugang unter Kontrolle hält.

Jedoch braucht niemand in Deutschland zu befürchten, sollten sich wirklich einmal die „Suworowisten“ in der russischen Militärgeschichtsschreibung durchsetzen, dies würde dazu führen, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion nachträglich zu entschuldigen. Hitler und die Wehrmachtführung, das besagen alle bisherigen ernsthaften Forschungen in Deutschland wie in Rußland, hatten von den in der Sowjet­union vor dem 22. Juni 1941 ablaufenden militärischen und politischen Entscheidungsfindungen keinerlei Kenntnis. Von einem „Präventivschlag“ Hitlers kann man also unmöglich sprechen. Adolf Hitler scheint nur wieder einmal und diesmal wohl zum letzten Male, in seiner erratischen Kriegsführung am 22. Juni 1941 unverhofftes Glück gehabt zu haben. Sein Feldzug gegen die Sowjetunion hätte ansonsten lange vor dem Mai 1945 genau dasselbe vernichtende Ende gefunden.






Dr. Jürgen W. Schmidt, Jahrgang 1958, diente als Offizier in NVA und Bundeswehr. Nach dem Militärdienst promovierte er in Geschichte. Heute arbeitet er in einem Berliner Unternehmen. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der polnischen militärhistorischen Zeitschrift „Przeglad Historyczno-Wojskowy“ und verfaßte eine Reihe von Büchern zur Geheimdienstgeschichte, zuletzt „Spionage, Terror und Spezialeinsatzkräfte“ (Berlin 2019). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die betriebswirtschaftlichen Irrwege der Bundeswehr („Siegen können ist alles“, JF 35/17).

Foto: Der Generalstab  der Panzergruppe Guderian am Bug bei Brest-Litowsk um 3.15 Uhr am 22. Juni 1941, unmittelbar vor dem Angriff auf die Sowjetunion; rechts Kommandeur Heinz Guderian:  Mit Wiktor Suworow gehen die russischen Militärhistoriker Aleksej Isaew und Mark Solonin davon aus, daß die sowjetischen Militärplanungen gegen das Reich offensiv waren.