© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/19 / 01. November 2019

Der Jugendstaat als das Ideal
Vor neunzig Jahren prägte Eberhard Köbel mit der Gründung der bündischen Bewegung dj. 1.11 die Jugendbewegung neu / Politisch irrlichterte die „deutsche jungenschaft“ zwischen KPD und NSDAP hin und her / Keimzelle der späteren NS-Widerstandsgruppe der „Edelweißpiraten“
Ralf Küttelwesch

Er ist mitreißender Fahrtenführer und besitzt ein untrügliches Gespür für notwendige Neuerungen, Eberhard Köbel, „tusk“ „der Deutsche“ genannt. Sein exzentrisches Auftreten fasziniert einen Teil der Jüngeren. Alles bisher Gewesene lehnte er ab. „Bürgerlich“ sei die Jugendbewegung gewesen, „eitel und überklug, veraltet und unzulänglich“. Unermüdlich redete er auf seine Jungen ein, entwarf ihnen seinen Plan eines autonomen Jugendreiches. Hier war die „deutsche jungenschaft“ vom 1.11.1929 prägend. Ihr Gründer, tusk, durchlief verschiedene Stationen innerhalb der Jugendbewegung. Er trat zunächst in den „Deutschwandervogel“ ein, dann trat er zur ,,Deutschen Freischar“ über, wo er 1928 Gauführer in Schwaben wurde. Als solcher gründete er die „dj. 1.11“, was 1930 zu seinem Ausschluß führte. 

Charismatischer Führer mit politischem Wankelmut

Als die „Deutsche Freischar“ seinen Ausschluß vollzieht, verliert sich tusk im Rausch. Seine Fahrten kannten keine Grenzen mehr. Neue Zeitschriften entstehen, ihr Stil war revolutionär, die Zeichnungen bestechend. Aus Lappland hatte er die „Kohte“ mitgebracht, jenes schwarze Zelt der Rentierjäger, das bald seine Lager beherrschte. Er war Schöpfer einer Rußlandbegeisterung, die sich bis heute im bündischen Liedgut widerspiegelt. Er entwarf die „Jungenschaftsjacke“, führte die Kleinschreibung in Anlehnung an das „Bauhaus“ ein – er prägte einen ganzen Stil. Im Äußeren knüpfte die „dj. 1.11“ an soldatische Formen an: man trug Koppel mit Seitenriemen, man „trat an“ und marschierte in Formation. Im Inneren waren Befehl und Gehorsam prägend. Vorbilder waren die jungen Soldaten, die in Langemarck gekämpft hatten. 

Die dj. 1.11 gab der Jugendbewegung, dem Männerbündischen und dem Bündischen überhaupt eine neue Dimension: sie kämpften aktivistisch und militant für ein neues Ideal, den „Jugendstaat“. Darüber hinaus führte tusk das Stockfechten ein und gab die Liederblattfolge „Die Soldatenchöre der Eisbrechermannschaft“ heraus, die in der Bündischen Jugend weite Verbreitung fand, ebenso die Zeitschriften Das Lagerfeuer und Der Eisbrecher. Nichts Mittelmäßiges war ihm gut genug. Die Zahl seiner Anhänger wuchs. Inge Scholl schrieb über die Jungenschafter: „sie waren ernst und verschwiegen, sie hatten ihren eigenen humor und ganze eimer voll witz und skepsis und spott. sie konnten wild und ausgelassen durch die wälder jagen (...) sie saßen genauso still und mit angehaltenem atem in konzerten, um die musik zu entdecken (...) sie gingen auf zehenspitzen in den museen umher.“

Vom Elternhaus und dem Deutsch-Wandervogel geprägt, war tusk ein Bewunderer von Adolf Hitler, den er 1925 in München besuchte. Am 20. April 1932, an Hitlers 43. Geburtstag, trat er allerdings demonstrativ der KPD bei. In seinen öffentlichen Erklärungen bezeichnete er den Eintritt als konsequente Weiterführung der Jugendbewegung. Seine Anhänger forderte er auf, seinem Beispiel zu folgen. Mittels Zusammenarbeit der Jugendbewegung mit der von der KPD geführten Arbeiter- und Arbeiterjugendbewegung Das Ziel sollte Hitlers Machtergreifung verhindert werden. Der KPD-Eintritt von tusk wurde nicht zum Fanal, das die bündische Jugendbewegung aufrüttelte, sondern führte zur empörten öffentlichen Distanzierung aller maßgebenden Bünde. Aber nicht nur von Außen kamen Angriffe gegen diesen Schritt von tusk, es kam zur Auseinandersetzung zwischen den Anhängern und Gegnern des KPD-Beitritts. 

Das Selbstverständnis der Jungenschaft war, vor allem vollkommen unabhängig zu sein. Die Jungen sollten als „Selbsterringende“ handeln, also Neues selbst gestalten, so hatte es tusk postuliert. Ihm wurde nun vorgeworfen, die Linie der Autonomie und der Freiheit von Weltanschauungen verlassen zu haben. Mit der Festlegung auf den Kommunismus habe er sich einer Parteidoktrin unterworfen und damit die Ideale der „dj.1.11“ verraten. 

Dann der Wechsel, auf dem Osterlager 1933 rief tusk die Gruppen der „dj.1.11“, die eben noch mit der kommunistischen Jugend zusammengearbeitet hatten, zum Eintritt in die Hitlerjugend auf. Angeblich hatte er in Berlin Gespräche mit der Reichsjugendführung geführt. Gegenüber Heinz Gruber, dem ersten, bündisch geprägten Reichsjugendführer vor Baldur von Schirach, mußte er aber eingestehen, daß er beim Versuch, zur Reichsjugendführung vorzudringen, von der Stabswache die Treppe hinuntergeprügelt worden sei.

Ab dem Sommer 1933 wurden zunächst die Bünde im Reich verboten. Nun, nach dem Verbot wurden sie aufgefordert, aus ihrem Bundesleben herauszutreten, um in etwas Neues einzutauchen. Das Erlebte und Gelebte zu opfern für eine neue, größere Gemeinschaft, die dem großen Ganzen, dienen sollte. Die Aufforderung wurde zur Forderung, zum Zwang. Sie sollten das freie Jugendleben in die enge Rüstung einer Staatsjugend pressen. Viele taten es, wenige nicht, doch auch sie mußten letztlich vor dem totalitären Anspruch des neuen Staates versagen. Selten wurde daraus ein aktiver Widerstand. Viele Bündische hielten aber trotzdem, auch nach Eintritt in die HJ, den Kontakt zu den früheren Kameraden, die illegal auf Fahrt gingen und durch Kleidung und Liedgut ihre Andersartigkeit zeigten. Sie wurden von der Gestapo „Edelweißpiraten“ genannt, da das Edelweiß eines unter vielen Kennzeichen der verbotenen Bündischen Jugend gewesen war. In westdeutschen Städten wie Köln, Düsseldorf oder Dortmund traten diese  Gruppen auch aktiv gegen die HJ auf, mit der man sich regelrechte Kämpfe lieferte („Ja, wenn die Fahrtenmesser blitzen und die Hitlerjungen flitzen ...“, wurde sogar eine Strophe des bekannten Fahrtenliedes „In Junkers Kneipe“ umgedichtet).

Insgesamt lassen die Aktionen von tusk auf einen charismatisch exentrischen und zugleich egomanischen Querulanten schließen, der wankelmütig vom Zen-Budhismus zum Kommunismus bis hin zum Nationalsozialismus taumelte, ohne sich selbst zu finden. Köbel wurde am 18. Januar 1934 in Stuttgart von der Gestapo verhaftet und am 20. Februar 1934 aus der Haft entlassen. Er emigrierte im Sommer 1934 über Schweden nach Großbritannien. Erst im August 1948 kehrte er nach Deutschland, in die damalige SBZ, zurück und trat in die SED ein. Wegen angeblicher Agententätigkeit und seines für die SED unklaren Verhaltens von 1933 bis in die Kriegsjahre hinein wurde er 1951 aus der SED ausgeschlossen. Am 31. August 1955 starb Köbel in Berlin-Ost, am 31. März 1990 wurde er posthum von der zentralen Schiedskommission der PDS rehabilitiert. 

Prominente des Widerstands gehörten der dj.1.11 an

Prominente Mitglieder der dj. 1.11 waren unter anderem die Widerständler Harro Schulze-Boysen, Hans Scholl und Willi Graf, Heinrich Graf von Einsiedel. Inwieweit der Einfluß der dj. 1.11 bei den Aktionen der „Weißen Rose“ eine Rolle spielte, ist umstritten. Hans Scholl folgte jedenfalls dem Aufruf von tusk und trat am 15. April 1933 zunächst dem Jungvolk der Hitlerjugend bei. Am 1. Mai 1935 wurde er vom Jungzugführer zum Fähnleinführer befördert und führte in seinem Fähnlein in der HJ eine dj.1.11-Horte von etwa zehn Schülern. Daraufhin wurde er und seine Geschwister Inge, Sophie und Werner im Dezember 1937 kurzfristig inhaftiert. Hans Scholl selbst wurde am 14. Dezember 1937 wegen „bündischer Betätigung“ am 25. November 1937 verhaftet. Ein weiterer Grund für die Anklage durch das Sondergericht in Stuttgart waren Vorwürfe zu homosexuellen Handlungen mit einem anderen Jungen. Gegen Hans Scholl und andere wurde ein Verfahren nach den Paragraphen 174 und 175 sowie wegen Fortsetzung der bündischen Jugend eröffnet. Am 2. Juni 1938 wurde das Strafverfahren gegen Hans Scholl jedoch nach dem Straffreiheitsgesetz vom 30. April 1938 eingestellt.

Auch nach dem Krieg forderten die Jungenschafter ihr Recht, das Recht der Jugend. Prominente Nachkriegsmitglieder waren der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen Ernst Albrecht, der Schauspieler Klaus Kinski oder der Regisseur Bernhard Wicki. Zum 80jährigen Jubiläum schreibt die Redaktion in ihrem Blog „buendische-vielfalt.de“: „80 jahre dj.1.11 – 80 jahre verschwörung vom 1.11.1929! verschwörung gegen verkrustete strukturen (...) dj.1.11 wollte unabhängigkeit, wollte eigenständiges, freies jugendleben. dj.1.11 wollte nicht jungenschaft als vorstufe zum erwachsenenstand. dj.1.11 wollte jugend!“






Ralf Küttelwesch arbeitet aktuell an dem Buchmanuskript „Edelweißpiraten contra Hitlerjugend“, das noch 2019 im Verlag factum-coloniae erscheinen soll.

 www.factum-coloniae.com