© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Stimmung statt Stimmen
Analyse: Vor den jüngsten Landtagswahlen wurden die Grünen in den Umfragen regelmäßig überschätzt
Ronald Bertold

Deutschlands Meinungsforscher haben die Stärke der Grünen enorm überschätzt. Die AfD dagegen liegt bei den Umfragen deutlich unter den Wahlergebnissen. Das ergibt ein Vergleich der Resultate der jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen mit den Veröffentlichungen der Umfrageinstitute kurz vor den Urnengängen.

Bei allen drei Wahlen sahen die Forscher die Grünen bis zu rund 50 Prozent über ihren tatsächlichen Ergebnissen. In Brandenburg maßen sie für die Partei zwölf (Infratest Dimap), 14 (Insa), 14,5 (Forschungsgruppe Wahlen) und 16 Prozent (Forsa). Letztlich fuhren die Grünen in der Mark jedoch nur 10,8 Prozent ein. Die Abweichung lag hier bei bis zu plus 48,1 Prozent – nicht zu verwechseln mit den Prozentpunkten, die den Wert von maximal 5,2 erreichten.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in Sachsen. Insa, Forschungsgruppe Wahlen und Infratest Dimap prognostizierten elf, FB Czaplicki für die Leipziger Volkszeitung sogar 13 Prozent. Tatsächlich stimmten nur 8,6 Prozent für die Grünen – was einer Überschätzung von bis zu 51,2 Prozent entspricht. 

Trotz dieser Erfahrungen preisten die Meinungsforscher diese Fehlmessungen offenbar nicht bei ihren Prognosen für die Thüringen-Wahl acht Wochen später ein. Denn auch hier lagen die Grünen in den Umfragen zwischen sieben (FG Wahlen, Infratest) und acht Prozent (Insa). Am Wahlabend reichte es dann lediglich für 5,2 Prozent. Die Meinungsforscher hatten die Stärke der Partei diesmal sogar um bis zu 53,9 Prozent überschätzt.

„Grüne sind stärkste Kraft links der Mitte“

Wie kann das sein? Profitieren die Grünen womöglich bei den Demoskopen ähnlich wie bei Journalisten von einem besonderen Wohlwollen? Hermann Binkert vom Meinungsforschungsinstitut Insa weist das gegenüber der JUNGEN FREIHEIT zurück. „Die Grünen liegen aktuell im Trend. Das Thema ‘Klimawandel’ stärkt sie. Viele können sich vorstellen, sie zu wählen“, sagt er. Kämen dann aber noch andere Überlegungen dazu, insbesondere die Frage, wer stärkste Kraft werde, „dann wird taktisch gewählt“. Dies bedeute laut Binkert: „Dann stimmen potentielle Grünen-Wähler für die CDU (Sachsen), die SPD (Brandenburg) oder die Linke (Thüringen).“ Jeder dritte Wähler entscheide sich erst in der Woche vor der Wahl: „40 Prozent davon hauptsächlich taktisch.“ Hieße: Rund 15 Prozent wählen anders, als sie bei der Befragung angaben – meist, um eine Partei stärker zu machen als die AfD. Die massive Überschätzung der Grünen bei drei Landtagswahlen wirft die Frage auf, was die hohen Umfrageergebnisse für die Grünen auf Bundesebene derzeit wert sind. Lägen die Abweichungen hier auch bei um plus 50 Prozent, dann entspräche das einem tatsächlichen Wahlergebnis von 13,3 statt den ermittelten 20 Prozent. Auf die Frage, ob sein Institut die Werte für die Grünen bei den deutschlandweiten Projektionen nun nach unten anpasse, sagt Binkert: „Auch die aktuellen Sonntagsfragen im Bund sind korrekt erhoben. Auf Bundesebene profitieren die Grünen davon, daß sie aktuell die stärkste Kraft im Lager links der Mitte sind.“ Und er verteidigt die Branche: „Die meisten Umfragen im Vorfeld der drei Landtagswahlen haben die tatsächliche Stimmung recht gut gespiegelt. Taktisches Wahlverhalten läßt sich nur vermuten, aber erst im nachhinein messen.“

Was die grundsätzliche Stimmung angeht, hat Binkert recht. Alle Umfragen sahen vorab eine arithmetische Stimmenmehrheit von Linker und AfD. Daß CDU-Chef Mike Mohring am Wahlabend vor den Kameras stets wiederholte, diese Konstellation sei völlig überraschend und deshalb könne er auf den Verlust der Mehrheit für die „Parteien der Mitte“, CDU, SPD, Grüne und FDP, noch keine Antwort geben, war falsch. Allerdings intervenierte kein Journalist.

Spiegelverkehrt zu den Grünen unterschätzten die Institute die AfD. In Brandenburg lag die Oppositionspartei bei den Umfragen kurz vor der Wahl zwischen 21 (Forsa) und 22 Prozent (FG Wahlen, Infratest, Insa). Am Wahlabend landete die AfD dann bei 23,5 Prozent – eine Differenz von bis zu minus elf Prozent. Das gleiche Bild zeigte sich in Sachsen. Während die Demoskopen 24 (Infratest), 24,5 (FG Wahlen) und 25 Prozent (Insa) ermittelten, erreichte die AfD 27,5 Prozent; bis zu minus 12,7 Prozent Abweichung.

Zumindest Insa und Infratest hatten daraus offenbar gelernt und sahen die AfD kurz vor der Thüringen-Wahl bei 24 Prozent. Die Forschungsgruppe Wahlen lag jedoch mit 21 Prozent erneut deutlich unter dem realen Resultat (23,4 Prozent).

Umfragen nicht mit Prognosen verwechseln

AfD-Anhänger haben keinen Grund, taktisch abzustimmen. Woran liegt das Phänomen der Unterschätzung dann? Binkert: „Diese Wähler nehmen signifikant seltener an Wahlbefragungen teil. Das läßt sich nur teilweise durch die Rückerinnerungsfrage – was haben Sie bei der letzten Wahl gewählt – ausgleichen.“ Trotzdem lasse sich dadurch der Trend „recht gut“ feststellen: „Die Abweichungen beim AfD-Ergebnis waren auch deutlich weniger groß als bei den Grünen.“

Grundsätzlich warnt der Insa-Chef davor, Umfragen mit Prognosen zu verwechseln. „Wir erheben die Stimmung zum Zeitpunkt der Befragung. Das spiegelt die Stärke der Parteien eine Woche vor der Wahl.“ Sein Institut prognostiziere dagegen nicht, „wie sich voraussichtlich die Stimmung bis zur tatsächlichen Wahl noch verändern wird“. Die veröffentlichten Zahlen seien „ausschließlich eine Umfrage, ein aktueller Stimmungstest, der dann auch für viele taktische Wähler Grundlage ihres taktischen Wahlverhaltens ist“. Demnach beeinflussen die Umfragen die Wahlergebnisse.