© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Das freie Wort war ihm heilig
Nachruf: Der Philosoph und Publizist Günter Zehm ist gestorben / In der JF-Redaktion hinterläßt er eine klaffende Wunde / Seine -Kolumne war einzigartig in der deutschsprachigen Publizistik
Thorsten Thaler

Niemand möchte nur für sich selbst sterben, jeder möchte vielmehr bis zuletzt angeschlossen bleiben an den gelassenen Lauf der alltäglichen Dinge.“ Günter Zehm, von dem dieser Satz aus einer Vorlesungsniederschrift über den „Gesunden Menschenverstand“ (2009)stammt, war das bis wenige Wochen vor seinem Tod glücklicherweise vergönnt. Vergangenen Freitag starb er mit 86 Jahren im Universitätsklinikum Bonn an den Folgen einer Herzattacke. Aufgehoben fühlen konnte er sich bis dahin in einem stabilen Netzwerk aus Familienangehörigen, Freunden, Weggefährten, Kollegen, und publizistisch auf das engste an das Zeitgeschehen angeschlossen war er als hochgeschätzter Kolumnist und Autor dieser Zeitung.

Mindestens zwei-, dreimal in der Woche telefonierte er mit der Redaktion. Dabei ging es meistens um unsere Blattplanung, Themenabsprachen für seine Kolumne oder bevorstehende Jubiläen, zu denen er gern größere Aufsätze schreiben wollte wie zuletzt erst im April und September dieses Jahres zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts (JF 38/19) beziehunsgweise zum 500. Todestag des Universalgelehrten Leonardo da Vinci (JF 18/19).

Oft diskutierten wir aber auch aktuelle politische Fragen, die ihn umtrieben. Wie herrlich konnte er sich dabei echauffieren über Zumutungen, Gängeleien und Idiotien der jeweiligen Machtinhaber oder vermeintlicher Eliten! Nicht selten mündeten solche Gespräche in regelrechte Schimpfkanonaden, bei denen sich seine Stimme überschlug – in solchen Momenten erinnerte er an den großen komödiantischen Wüterich Louis de Funès –, und die doch stets auch einen rational-argumentativen Kern aufwiesen.

Denn Günter Zehm war immer auch ein Konkretdenker. Die concretio, die Verdichtung, das konkrete Sprechen in den Spuren seines frühen akademischen Lehrers Ernst Bloch sowie der Philosophen Georg Simmel und José Ortega y Gasset war ihm ungemein wichtig. Er trachtete nicht danach, für die Elfenbeintürme der Intellektuellen zu schreiben. Seine Texte sollten an den Lebensstrom angebunden sein und daraus Erkenntnis schaffen. Der Lebensphilosophie, notierte er in einer anderen Vorlesungsschrift mit dem Titel „Mutter Erde, Vater Gott“ (2010), wachse dadurch „ein eigentümliches journalistisches Element“ zu. Der Konkretdenker dichte nicht, so Zehm, aber er logifiziere und verwissenschaftliche auch nicht.

Simmel, Ortega oder der junge Ernst Bloch hätten ihr Konkretwerden vor allem durch das Auffinden von Themen und allein schon mit Überschriften belegt, die Aha-Erlebnisse auslösten. „Es lohnt sich fast immer nachzulesen, man wird einen Gewinn davon haben, inhaltlich und formal. Der formale Glanz, die Gediegenheit und Eleganz der Darstellung gehören hier unabdingbar zum Philosophieren dazu, das Argument bekräftigt sich durch die Art, wie es serviert wird, es entsteht eine Philosophie der Funde.“

Weiter heißt es in der Niederschrift: „Die Raffinesse dieses Philosophierens liegt nicht nur darin, Probleme dort zu erkennen, wo andere nur eine Spur im Sand wahrnehmen, sondern noch mehr in der Kunst, am scheinbar abgelegenen und philosophieunwürdigen Einzelding ganze Bedeutungsketten aufzuhängen, ohne je dröge oder dogmatisch zu werden oder auch nur zu insistieren.“ Wer hierin auch eine versteckte Selbstauskunft Zehms lesen will (was er vehement bestritten hätte), liegt damit sicher nicht falsch.

Seit Januar 1995 schrieb er für die JUNGE FREIHEIT Woche für Woche seine Pankraz-Kolumne. In zwei Monaten hätten wir gemeinsam das 25jährige Jubiläum dieser in der deutschsprachigen Publizistik einzigartigen Institution feiern können. Daß es dazu nun nicht mehr kommt, hinterläßt eine klaffende Wunde in der Zeitung. Gern hätten wir unsere über zwei Jahrzehnte währende, ebenso vertrauensvolle wie fruchtbare Zusammenarbeit mit einem weiteren von Günter Zehm zusammengestellten Pankraz-Sammelband gekrönt. Und sicher hätte er sich, wie er in Gesprächen mit der JF-Redaktion immer wieder einmal durchblicken ließ,  irgendwann auch selbst mit einer Kolumne von seinen Lesern verabschieden wollen. Leider ließen die Umstände das nicht mehr zu.

Begründet hatte Günter Zehm seinen Pankraz – benannt nach einer Figur aus Gottfried Kellers Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“ – vor über vierzig Jahren, im Juni 1975 in der Tageszeitung Die Welt. Für das damals noch konservativ geprägte Blatt – erinnert sei an Namen wie Matthias Walden, Wilfried Hertz-Eichenrode, William S. Schlamm, Enno von Löwenstern, Herbert Kremp – war er seit 1963 als Feuilletonredakteur und später als Kultur-Ressortleiter tätig; von 1977 bis 1989 amtierte er als stellvertretender Chefredakteur. Die Kolumne erschien dort jeweils montags in der erklärten Absicht, „Tendenzen aufzustöbern und anschaulich zu machen, die vorerst noch unsichtbar umgehen“ (Zehm), sie jenseits irgendeiner vorgegebenen Theorie in all ihren „bunten Einzelheiten“ darzustellen und auf einen Begriff zu bringen. Doch nach dem Tod von Axel Springer und ausgerechnet im Jahr des Mauerfalls kam es zunehmend zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen Welt-Chefredakteur Manfred Schell über den Kurs der Zeitung, und Zehm wurde zum Ausscheiden gedrängt.

Seit 1990 veröffentlichte er seine Kolumne zunächst im Rheinischen Merkur – bis er am 10. Juni 1994 statt seines Textes in der Wochenzeitung den Hinweis lesen mußte, Pankraz sei in dieser Woche „verreist“. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, denn die Mitteilung war glattweg gelogen. Der Chefredakteur Thomas Kielinger hatte die Kolumne kurzerhand aus politischen Gründen aus dem Blatt geworfen. Ihm paßte nicht, wie kritisch Zehm die Gedenkfeiern anläßlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie ausgeleuchtet hatte: „Auch die Helden des D-Day nebst Onkel Joe, dem Moskauer Verbündeten, (…) haben Millionen von Kriegsgefangenen zu Tode gehungert, Zehntausende von Frauen vergewaltigt, haben schließlich die halbe Welt in ein einziges, über vierzig Jahre lang betriebenes Dauer-KZ verwandelt.“

In einem nachgereichten Brief an Zehm suchte Kielinger sein unverfrorenes Vorgehen damit zu rechtfertigen, er sehe in der Passage eine absurde Verdächtigung, „wie es nicht einmal dem wildesten Nationalisten in den Sinn käme“. Der Satz drücke für ihn einen „offensichtlichen Extremismus“ aus. Damit war der Bruch nicht mehr zu kitten. Eine solche Beschuldigung konnte Zehm, der jeden Totalitarismus gleich welcher Couleur verabscheute, unmöglich auf sich sitzen lassen. Er gestattete der JUNGEN FREIHEIT, der er ein halbes Jahr zuvor ein Interview zur politischen und geistigen Verfaßtheit des Landes gegeben hatte, den inkriminierten Text eine Woche später zu drucken.

Als weiterer Glücksfall für uns erwies sich, daß eine per Handschlag eigentlich schon so gut wie vereinbarte Rückkehr Zehms zum Springer-Konzern – die Welt am Sonntag wollte seine Pankraz-Kolumne angeblich ab Herbst 1994 veröffentlichen – an bis heute ungeklärten Widerstanden und Intrigen im Verlag scheiterte. So kam es schließlich dazu, daß der gestandene Journalist Günter Zehm seine Texte seit 1995 exklusiv für die JF verfaßte.

Es ist praktisch unmöglich, auch nur annähernd all die Themen aufzulisten, mit denen sich der Universalgelehrte in seinen Kolumnen befaßte. Sein Bildungshorizont und seine Interessen waren unfaßbar weit gefächert. Er widmete sich aktuellen politischen Debatten und Konflikten ebenso wie philosophischen Fragen, beleuchtete das Mediengeschehen und den Kulturbetrieb mit seinen unterschiedlichen Sparten, von der Literatur über Musik, Ausstellungen, Filme und Theaterstücke bis hin zu Bildender Kunst. Er verhandelte religiöse Stoffe, befaßte sich mit Traditionen, Sitten und Brauchtum. Besonders energisch wurde Günter Zehm, der als junger Mann in der DDR aus politischen Gründen zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war (Seite 16), stets dort, wo er staatliche Bevormundungen und Einschränkungen von Freiheitsrechten ausmachte. Die freie Meinungsäußerung war ihm heilig, allergisch reagierte er auf jedwede totalitäre Bestrebung, wo immer er sie witterte. Im Vorwort zum ersten JF-Sammelband mit Pankraz-Kolumnen im Jahr 2000 schrieb sein ehemaliger Chefredakteur bei der Welt, Herbert Kremp, Pankraz handelt „von Pretiosen – von der Humanität und dem Skandal ihrer immerwährenden Gefährdung; von der seltsamen Legierung aus deutscher Spaß- und Schuldgesellschaft, an der eines nicht stimmen kann, Schuld oder Spaß“.

Auf solche Wortmeldungen, die Stimme Günter Zehms, werden wir nun verzichten müssen. Er wird uns unendlich fehlen.