© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Mehrfachsprengkopf des Konservatismus
„Treiben Sie’s nicht zu weit“: Ein Journalistenkollege erinnert sich an Zusammentreffen mit Günter Zehm
Heimo Schwilk

Nichts behagte Günter Zehm mehr als der Besuch in einem von familiärem Treiben durchpulsten Haus, mit lebhaften Kindern und entspannten Eltern, die ihr Glück sichtbar genießen. Dann wurden seine immer etwas angespannten, auf intellektuelle Konfrontation vorbereiteten Gesichtszüge weich, ja geradezu träumerisch. Vielleicht vermißte er dieses bürgerliche Glück in seinem rastlosen, geistig ungeheuer produktiven Leben. Ich jedenfalls freute mich jedes Mal, wenn er uns in unserem Haus in Bad Godesberg besuchte. 

Zehm leitete damals das Feuilleton der Welt, ich das Literatur-Ressort des Rheinischen Merkur. Unser „Verbindungsmann“, der uns in den achtziger Jahren zusammengeführt hatte, war der gemeinsame Freund Ulrich Schacht. Er arbeitete als Kulturreporter eng mit Zehm zusammen und berichtete sehr anschaulich von dessen Temperaments-ausbrüchen in den Redaktionsräumen an der Godesberger Allee. Einmal hatte sich der ehemalige Bloch-Schüler im Kreis seiner Redakteure über ein Ost-West-Thema so in Rage geredet, daß er wild gestikulierend und rückwärts stolpernd durch eine gläserne Trennwand fiel. Inmitten der Scherben sitzend, so Schacht, habe er weiter gewütet. Für mich, der Zehm immer unaufgeregt und gefaßt erlebt hatte, eine ganz neue Seite des bewunderten Kollegen.

Günter Zehm verlor seine Bescheidenheit und Höflichkeit auch im angeregten Gespräch nicht, auch wenn man – fast unvermeidbar bei einem Querdenker wie ihm – immer sehr rasch auf widerstreitende Standpunkte stieß. Seine Einwände drapierte er mit Ironie und, ganz selten, mit lächelndem Sarkasmus. Als ich ihm, eben waren meine Hesse- und Rilke-Biographien erschienen, eröffnete, ich wolle nun ein Buch über Martin Luther schreiben, wiegte er den Kopf und gab mir zu bedenken, daß ich das lutherische Hochgebirge als Nichttheologe unmöglich „barfuß“ überqueren könne. Schuster, bleib bei deinen Leisten, hieß das, und für einen kurzen Augenblick regten sich Zweifel, ob der kluge, hochgebildete Mann, der ausführlich über die „Rechtfertigungslehre“ gearbeitet hatte, nicht recht haben könnte. Dann siegte der Übermut des Journalisten, und das Werk erschien 2017 mit dem provozierenden Titel „Martin Luther. Der Zorn Gottes“. Das wiederum gefiel Zehm so sehr, daß er dem Thema eine Pankraz-Kolumne (JF 52/17–1/18) widmete.

Seine Vorlesungen in Jena fesselten die Studenten 

Als ich Anfang der neunziger Jahre Zehms legendäre Vorlesungen an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena besuchte, bemerkte ich, wie sehr seine lebendige, feuilletonistisch gefärbte Vortragsweise die jungen Leute fesselte. So sehr, daß einige nach der Nietzsche-Vorlesung mit ihm davonzogen, um in einer Kneipe das Gehörte nachzubereiten. Dabei entpuppte sich der Dozent selbst als aufmerksamer Zuhörer, den die Lebenswelt seiner Studenten – gerade war ja die Mauer gefallen, Deutschland wiedervereinigt worden – brennend interessierte. Vielleicht erinnerte er sich an die eigene Studentenzeit, die bekanntlich mit vier Jahren Haft in Bautzen, Waldheim und Torgau geendet hatte. Nun, als Honorarprofessor in Jena, waren seine umjubelten Auftritte für den ehemaligen Dissidenten auch Wiedergutmachungen für erlittenes Unrecht. 

Anfang 1990 war Günter Zehm durch eine unrühmliche Kabale als stellvertretender Welt-Chefredakteur abgelöst und bald auch aus der Redaktion gedrängt worden. Und das unmittelbar nach dem historischen Großereignis der Wiedervereinigung, das er wie Ulrich Schacht – und auch ich – herbeigesehnt und mit vielen Artikeln herbeizuschreiben versucht hatte. Ein erneutes Unrecht!

Doch Zehm war nicht unterzukriegen. Als ich im Februar 1990 von Bonn nach Berlin reiste, um über ein Treffen von Autoren aus Ost und West zu berichten, die im Literarischen Colloquium am Wannsee zusammenkamen, traf ich auf einen höchst lebendigen, streitbaren Publizisten. Keinerlei Anzeichen von Mutlosigkeit oder gar Resignation. Man hatte Günter Zehm eingeladen, den versammelten Schriftstellern, die sich durch groteske Fehlurteile über die DDR und die deutsche Einheit blamiert hatten, die Leviten zu lesen. Er trug einen „Fünf-Punkte-Plan“ vor, wie dies künftig zu verhindern sei. Ich faßte diesen Auftritt in meinem späteren Bericht so zusammen: Der Schriftsteller müsse der „unliterarischen Kategorie des Gejammers abschwören“, sich „nicht allzu kritisch gebärden wie ein Staatsanwalt“, keinesfalls „den Utopien hinterhereilen“, sondern „das Volk als Erfahrung begreifen“ und sich „vor allem eines eigenen Sprachspiels statt des der Soziologen“ bedienen. 

Mein Aufsatz erschien am 2. März 1990 unter dem Titel „Wer auf sein Elend tritt, steigt höher“ im Rheinischen Merkur. Zehm bedankte sich „für die geradezu privilegierte Erwähnung“ in einem hinreißend ironischen Brief, in dem er allerdings monierte, daß ich ihn, in Anspielung auf seinen Rausschmiß aus der Welt, als „abgerüsteten Mehrfachsprengkopf des Konservatismus“ bezeichnet hatte. „Treiben Sie’s nicht zu weit“, schrieb er, „noch sind wir nicht abgerüstet, allenfalls in falschen, allzu feuchten Händen.“ Dieser unbeugsame Optimismus des aufgeklärten Konservativen begleitete Günter Zehm weiter durch sein erfülltes Leben und blieb auch für mich, der seine Wege kreuzen durfte, vorbildlich.






Dr. Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, hat Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen studiert. Er arbeitete in leitenden Positionen beim „Rheinischen Merkur“ und der „Welt am Sonntag“. Als Buchautor veröffentlichte  er unter anderem vielbeachtete Biographien über Ernst Jünger, Hermann Hesse, Rilke und zuletzt Martin Luther.