© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Der Regierung die Stirn geboten
„Konterrevolutionär“: In der DDR wurde Günter Zehm wegen seiner kritischen Haltung zum SED-Regime zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt
Jörg Bernhard Bilke

In den letzten Jahren vor seinem Tod erzählte Günter Zehm mehrmals davon, daß Freunde ihn bedrängt hätten, er sollte doch endlich seine Autobiographie schreiben, da er Aufschlußreiches zu berichten hätte über sein DDR-Leben, das im Januar 1961, nach drei Jahren politischer Haft, mit der Flucht nach West-Berlin geendet hatte.

Er war einer der Lieblingsschüler des Leipziger Philosophen Ernst Bloch (1885–1977) gewesen und 1956 als Assistent an die Universität Jena versetzt worden, wo er seine Dissertation über marxistische Anthropologie schrieb und im Sommer 1956 Wolfgang Harich (1923–1995) traf. Der hatte eine Professur für Philosophie an der Ost-Berliner Humboldt-Universität inne und sammelte kritische Intellektuelle um sich mit dem Ziel, die stalinistische Clique um SED-Führer Walter Ulbricht auszuschalten.

Günter Zehm, der erschüttert war über die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im Herbst 1956 durch So-wjettruppen, wurde von der Staatssicherheit diesen „Konterrevolutionären“ um Wolfgang Harich zugerechnet, am 5. Juni 1957 verhaftet und wegen „Boykotthetze“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Das gleiche Schicksal traf nur wenige Monate später auch den Schriftsteller Erich Loest, der wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu einer siebeneinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. 

In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Gera vom 6. September 1957 hieß es zu Zehm: „Unter dem Einfluß bürgerlicher Ideologen, getarnt unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den ‘Dogmatismus“, führet der Beschuldigte heftige Diskussionen gegen Wissenschaftler, welche auf der Grundlage der Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus lehrten. Als er nach dem XX. Parteitag der KPdSU ‘Morgenluft’ witterte, forderte er an dem Leipziger Institut für Philosophie zu einer Diskussion über die durch den Personenkult entstandenen Fehler auf und behauptete, daß die von der SED und der Regierung der DDR durchgeführte Politik fehlerhaft sei (…) Gleichzeitig startete er als Mitglied der zentralen Propaganda-kommission während eines Diskussionsbeitrages im Seminar eine Hetze, in der er verschiedene Erscheinungen des Personenkultes des Faschismus gleichsetzte (…) Die in Leipzig unter den Wissenschaftlern und den Studenten begonnene Aufweichtaktik und Hetztätigkeit setzte der Beschuldigte auch nach seiner Anstellung als wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Institut in Jena fort. Die Ereignisse in Volkspolen (…) und die Zeit während und nach der Niederschlagung des konterrevolutionären Putsches veranlaßten den Beschuldigten, sich noch aktiver für sein Ziel – Hetze gegen den volksdemokratischen Staat – einzusetzen.“

Ein Jugendfreund trat als Belastungszeuge auf

In diesem Stil ging es seitenlang weiter: „Den Verleumdungen setzte er aber die Krone auf, indem er behauptete, die Verhältnisse in der DDR und den anderen sozialistsichen Ländern seien schrecklicher als der Faschismus. Ja, er scheute sich nicht, der faschistischen Provokation am 17. Juni 1953 und der blutigen Fratze der Konterrevolution in der Volksrepublik Ungarn im Herbst 1956 den Charakter revolutionärer Erhebungen zu verleihen. (…) Der Beschuldigte schreckte selbst davor nicht zurück, die Sicherheitsorgane der Staaten des sozialistischen Lagers zu verleumden, indem er insbesondere behauptete, in der DDR werden die Häftlinge mißhandelt und Willkürmaßnahmen ausgesetzt (…) Schließlich verleumdete er noch die Regierung der DDR, indem er sagte, von der Regierung werde eine ‘stalinistische Politik’ betrieben und die Kulturpolitik würde von unfähigen Funktionären bestimmt. Ausgehend von diesen zersetzenden und verleumderischen Diskussionen forderte er die Entfernung der ‘Stalinisten’ und andere Änderungen in der Staats- und Gesellschaftordnung der DDR.“

Günter Zehm saß in den Zuchthäusern Torgau und Waldheim, wurde im Dezember 1960 vorzeitig entlassen und floh nach West-Berlin. Nach seiner Registrierung im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde wurde er nach Frankfurt am Main ausgeflogen. Dort setzte er sein Studium bei Theodor Adorno, Iring Fetscher und Carlo Schmid fort und wurde mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre promoviert.

Leider hat er seine Autobiographie immer wieder aufgeschoben; so recht wollte er wohl auch nicht detalliert Auskunft geben. Noch 1961 hatte er in der Kölner Zeitschrift SBZ-Archiv unter dem Titel „Weh dem, der denkt“ über seine Verurteilung vor dem Bezirksgericht Gera und ihre Hintergründe berichtet. In diesem Artikel erfuhr man dann auch, daß seine Leipziger Diplomarbeit von 1956, die mit der Note „summa cum laude“ beurteilt worden war, eingezogen worden war, weil er dort die Werke „imperialistischer Philosophen“ ausgewertet hatte. Sein eigenes Exemplar mußte er damals dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen einsenden, es ist bis heute nicht auffindbar!

In der Erfurter SED-Zeitung Das Volk konnte man am 21. Oktober 1957 über Günter Zehm lesen, er verbreite „in Wort und Schrift Verleumdungen über unsere Republik, gegen die Macht der Arbeiter und Bauern“ und übe „Zersetzungstätigkeit unter Wissenschaftlern und Studenten“ aus, die der „Vorbereitung staatverräterischer Handlungen“ dienten.

Widerspruch zu Hermlin und Grass  

Und dann kam in der Nacht zum 13. August 1961 der Mauerbau in Berlin. Jetzt wurde ich doch unsicher, ob ich am 6. September zur Buchmesse nach Leipzig fahren sollte. In diesen drei Wochen bis zu meiner Abreise las ich wieder von Günter Zehm. In einem Leserbrief für die Welt hatte er in offener Weise zum Mauerbau Stellung bezogen. Dieser Leserbrief war eine Reaktion gewesen auf die Antwort des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin an Günter Grass, der am 14. August 1961 in höchster Erregung an Anna Seghers, die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbands, geschrieben hatte, um ihre Meinung zum Mauerbau zu erkunden. Sie hatte aber darauf nicht antworten können, weil sie nach Brasilien gereist war. An ihrer Stelle hatte Stephan Hermlin geantwortet. Günter Zehms Entgegnung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wie tief müssen er und Burschen seines Schlages gesunken sein, daß sie ohne Gewissensbisse und offensichtlich sogar mit penetranter Eitelkeit eine privilegierte Sonderexistenz in Anspruch nehmen, während um sie herum die Menschen geknechtet werden.“

Am 4. und 5. September 1961 fuhr ich zweimal von Hanau, wo ich wohnte, nach Langen bei Frankfurt, um mich mit Günter Zehm über meine geplante Leipzig-Reise zu beraten. Als ich die Klingel, unter welcher der Name „Günter Albrecht Zehm“ stand, betätigte, kam ein Mitbewohner heraus und erklärte mir, Günter Zehm wäre noch zur Kur in Bad Hersfeld. Ich fuhr nach Leipzig, wurde am 9. September verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. In den Zuchthäusern Torgau und Waldheim traf ich Mitgefangene, die Günter Zehm noch kannten. Begegnet bin ich ihm dann erst 1976, im Jahr darauf, als ich promoviert war, stellte er mich als Redakteur ein.

Jahre später erzählte er mir die Geschichte aus dem West-Berliner Studentenwohnheim „Siegmunds Hof“. Die Studenten dort hatten 1963 eine Lesereihe mit DDR-Schriftstellern arrangiert, um der „Entspannungspolitik“ zu dienen. Einer von ihnen war Rainer Kirsch, ein Jugendfreund Günter Zehms, der aber im Geraer Prozeß 1957 als Belastungszeuge gegen ihn auftrat. Dafür war ihm Straffreiheit zugesichert worden, er mußte nur „zur Bewährung in der Produktion“ arbeiten und durfte danach als unbescholtener Autor Gedichte veröffentlichen.

Günter Zehm fuhr im Auftrag seiner Zeitung nach West-Berlin und saß bei der Dichterlesung unerkannt in der ersten Reihe. Nach der Lesung aufzustehen und seine Meinung über den Verrat des einstigen Freundes kundzutun, wäre nicht ratsam gewesen. Er wäre als „Entspannungsfeind“ niedergebrüllt worden. 






Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, wurde 1961 bei einem Besuch der Leipziger Buchmesse wegen DDR-kritischer Artikel in einer westdeutschen Studentenzeitung verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Von 1983 bis 2000 war er Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn.





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