© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Unterwegs auf vielen Hochzeiten
Intellektuelle im Nachkriegsdeutschland: Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger
Thorsten Hinz

Hans Magnus Enzensberger hat auf vielen Hochzeiten getanzt: als Lyriker, Romanautor, Dramatiker, Herausgeber, Essayist, Literaturkritiker, als Lektor sowie als Redakteur in Funk- und Printmedien. Mit dem Empfänger des Büchner-Preises 1963 verbindet man im Rückblick zwar keine literarischen Klassiker, die mit der „Blechtrommel“, den „Mutmaßungen über Jakob“ oder der „Gestundeten Zeit“ vergleichbar wären, aber sein Sensorium, seine Sprachkraft, die intellektuelle Brillanz und nicht zuletzt sein elitärer Eigensinn haben ihn über den Durchschnitt seiner Alterskohorte hinausgehoben und zum exemplarischen Fall eines Intellektuellen im Nachkriegsdeutschland werden lassen.

Enzensberger gehört dem Jahrgang 1929 an, der für das geistige und künstlerische Leben in Deutschland – und zwar in West wie in Ost – so außerordentlich folgenreich war. Ausdrücklich hat Günter Maschke ihn der – westsozialisierten – Flakhelfer-Generation zugerechnet, die von der Gemeinschaftskunde, den Care-Paketen und den US-Stipendien für Demokratiewissenschaft geprägt wurde. „Die schöne neue Welt“, die diese Generation „nach Blut und Tränen schauen durfte, wurde von der einen Fraktion von ihr später als realisiert angenommen, von der anderen aggressiv eingefordert“. Die kritisch-fordernde Fraktion habe sich überwiegend aus Intellektuellen formiert, die Maschke „als enttäuschte Normativ-Demokraten“ bezeichnete.

Die Beschreibung trifft auf Enzensberger zu, ohne daß er in ihr völlig aufgeht. Denn seine normativ-demokratisch motivierten Interventionen enthalten viele dialektische Widerhaken, die statt den Gläubigen den Skeptiker und Zweifler verraten.

Er lieferte ein Psychogramm seiner eigenen Generation

Das titelgebende Gedicht seines 1957 erschienenen Lyrikbandes „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ fordert den Vergleich mit Heinrich Bölls Roman „Billard um halbzehn“ heraus, der zwei Jahre später erschien und zu den repräsentativen Romanen der Bundesrepublik zählt. Böll hatte die Handlung entlang einer aus dem Kaiserreich über die NS-Zeit bis in die bundesdeutsche Gegenwart reichende Dichotomie von Gut und Böse, von den Verkostern des „Sakraments der Lämmer“ und den Verzehrern des „Sakraments der Büffel“, entwickelt.

Von solchem bigotten Moralismus hielt Enzensberger gar nichts. Das Problem sind für ihn nicht die Büffel-Wölfe, die lediglich ihrer Natur gemäß handeln, sondern die Lämmer, die Opportunisten und Mitläufer, die sich willig der Täuschung und dem billigen Trost hingeben und als ihren „teuersten Schmuck“ den „Nasenring“ tragen. „Winselnd noch / lügt ihr. Zerrissen / wollt ihr werden. Ihr / ändert die Welt nicht.“ Ob Kommunist, Nationalsozialist oder geläuterter Demokrat – es ist der hörige, nach Unterwerfung süchtige Massenmensch.

Im Gedicht „An einen Mann in der Trambahn“ schlägt er der geschlagenen Väter-Generation nochmals ins Gesicht: „Ich mag nichts wissen von dir, Mann“. Er empfindet Ekel vor dem „Mann mit dem Wasseraug, mit dem Scheitel aus Fett und Stroh/ der Aktentasche voller Käse“. Die literaturgeschichtliche Figur, an die er seinen Abscheu adressiert, ist das lyrische Ich aus Günter Eichs Gedicht „Inventur“, das 1945/46 in einem Kriegsgefangenenlager entstand und in dem ein Überlebender die wenigen verbliebenen Habseligkeiten aufzählt: Mantel, Mütze, Leinenbeutel, die Konservenbüchse aus Weißblech, Wollsocken. 

Elf, zwölf Jahre später hat der Geschlagene das Wirtschaftswunder vollbracht, doch der Geruch und die Spuren von Entbehrung, Schmutz und schwärenden Wunden sind an ihm haften geblieben. Die Freß- und Reisewelle haben ihm Kompensation, aber weder zu Genuß noch Sublimierung verholfen. Er ist provinziell und spießig geblieben und weiß trotz seiner Urlaubsreisen nicht, „wie die Welt riecht, wie der Lachs steigt / in Lappland, der Duft der Scala“.

Enzensberger lieferte ein Psychogramm der eigenen Generation. Die Abneigung und der kritische Impuls gegen die Adenauer-Republik haben den Ursprung eher in der Psychologie und im Ästhetischen als in politischer Überzeugung. Kurzum: Seine Herkunft war ihm peinlich. „In meiner Jugend wurde jeder Deutsche, der das Glück hatte, ins Ausland reisen zu können, dort einer formlosen Prüfung unterzogen. Wie alt, so lautete die stille Frage, ist er 1933 gewesen? Und wie alt 1945?“ Sein Glück sei es gewesen, daß er als „ausgewachsener Nazi einfach nicht in Frage kam“.

Das hat ihn nicht zu einem billigen Nationalmasochismus verführt. Sein Langgedicht „Landessprache“ (1960) atmet vielmehr den Geist Hölderlins, wenn es heißt: „denn dieses Land, vor Hunger rasend,/ zerrauft sich sorgfältig mit eigenen Händen, / dieses Land ist von sich selber geschieden.“ Zugleich kündigt sich hier an, was in der Studentenbewegung sich aggressiv entladen wird.

Das „Deutschland-Problem“ hat Enzensberger schon 1966 im Kursbuch 4 als einen „Anachronismus“ bezeichnet. Es sei ein „besonders komplexer, lang verschleppter, überständiger Streitfall aus der Zeit des Kalten Krieges“, aber kein erledigter. Er empfahl „die Respektierung der DDR“, weil sie „eine zukünftige Einigung, vielleicht sogar Vereinigung“ begünstige. Beide deutsche Staaten sollten konföderieren und einen „Deutschen Rat“ bilden, in dem Delegierte des Bundestages und der Volkskammer zusammenarbeiten. Im weiteren Verlauf „verlören (sie) ihre Geschlossenheit; sie müßten voneinander lernen; sie könnten einander Versionen ihrer Zukunft anbieten“. Die Empfehlung war weniger weltfremd, als sie 1989/90 im Angesicht des DDR-Bankrotts klingen mußte. Tatsächlich wäre es langfristig besser gewesen, wenn die Wiedervereinigung zu einer neuen, gesamtdeutschen Qualität geführt hätte, statt die teilstaatliche Qualität des größeren dem kleineren Teilstaat überzustülpen.

Frontalangriff auf die Presse 

Souverän nutzte Enzensberger die Begrifflichkeit der Frankfurter Schule und ergänzte sogar die „Kultur-“ um die „Bewußtseinsindustrie“. Ihm ging es darum, ihre Mechanismen zu begreifen und zu nutzen, statt sie zu beklagen. Aufsehen erregte 1957 sein Funkessay „Die Sprache des Spiegel“. Er attestierte dem mächtigen Nachrichtenmagazin eine Schlüsselloch-Perspektive und anekdotische Berichterstattung, in der die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge ausgeblendet blieben. Die Historie schrumpfe „zum Histörchen“, die Pseudokritik befördere das Ressentiment statt die Erkenntnis und führe zum Orientierungsverlust. „Jedes Volk, so können wir hinzufügen, verdient die Presse, die es nötig hat. Daß wir ein Magazin vom Schlage des Spiegel nötig haben, spricht nicht für das Blatt, das die Masche zu seiner Moral gemacht hat: Es spricht gegen unsere Presse insgesamt, gegen den Zustand unserer Gesellschaft; es spricht mit einem Wort gegen uns.“

Die wichtigste Pointe aber bestand darin, daß der Spiegel den Frontalangriff locker wegsteckte und sogar zur Eigenwerbung nutzte, indem er ihn nachdruckte. Enzensberger wurde zu einem Starautor des Magazins, der für seine Essays schon mal 30.000 D-Mark einstrich, ohne je in den Verdacht zu geraten, zum Inventar des Magazins zu gehören und sich vereinnahmen zu lassen. Ähnlich war sein instrumentelles Verhältnis zur „Gruppe 47“.

Die Vertreter des traditionellen Kulturestablishments wie Friedrich Sieburg, Literaturchef der FAZ, oder der einflußreiche Literaturwissenschaftler und -kritiker Hans Egon Holthusen nahmen Enzensberger als ernsthaften Konkurrenten und Gegner wahr. Holthusen verteidigte im Dezember 1960 in der Süddeutschen Zeitung im Namen der „Sachlichkeit“ die Adenauer-Republik gegen den „fressenden Selbstekel der Nonkonformisten“. Er warf ihnen vor, Schlüsselstellungen einer vollbesetzten Kulturindustrie besetzt“ zu halten und von ihr „glänzend besoldet“ zu werden. Das wiederum war eine glänzende Vorlage für eine lustvoll-gekonnte Gegenattacke. Der tiefere Grund für das Ungleichgewicht der Diskutanten war freilich die politische Großwetterlage: Enzensberger hatte die innen- und außenpolitisch intendierte „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit auf seiner Seite, an der seine ein bis zwei Generationen älteren Kontrahenten Anteil gehabt hatten.

Da er vom real-existierenden Sozialismus nie etwas gehalten hatte, gehörte er zu den wenigen bundesdeutschen Intellektuellen, die 1989/90 nichts zurücknehmen oder erklären mußten. Aus dem Tritt geriet er dennoch und bestätigte Maschkes Einschätzung mit seiner Reaktion auf den Golf-Krieg 1991. Spiegelbildlich zu den pazifistischen Kriegsgegnern in Deutschland ersetzte er die politische und geostrategische Überlegung durch hypertrophierte Moral und begrüßte die amerikanische Intervention mit der Begründung, der irakische Diktator Saddam Hussein sei ein „Feind des Menschengeschlechts“. In einem Spiegel-Essay vom Februar 1991 versucht er er „zu zeigen, daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers keine journalistische Metapher, keine propagandistische Übertreibung ist, sondern das Wesen der Sache trifft“.

Gehaltvoller ist der 1993 erschienene Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“, eine realitätsnahe Paraphrase auf den einige Monate zuvor erschienenen „Anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß. 2011 meldete er sich mit dem Essay  „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“ zu Wort, in dem er die EU als eine „erbarmungslos menschenfreundliche“ Herrschaftsform kritisierte, durch die „wir gründlich betreut und umerzogen werden“.

Am 11. November wird Hans Magnus Enzensberger 90 Jahre alt.