© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Dorn im Auge
Christian Dorn

Auf dem Weg nach Halberstadt zum 30jährigen Klassentreffen (Abitur 1989) erklärt mir der aus Magdeburg stammende Mann im Abteil gegenüber, die DDR sei nur wegen der Wirtschaftsblockade durch den Westen zugrunde gegangen. Das könne man alles im Internet nachlesen. Allerdings versagt das Netz dort, wo es hilfreich sein könnte. So auf der Suche nach dem einstigen Mitschüler Amin, der einen verschollenen afrikanischen Vater hatte. Zu Beginn des elften Schuljahres war er plötzlich nicht mehr da. Unser Klassenlehrer beschied uns: „Kinders“, falls wir es noch nicht mitbekommen hätten, unser „schwarzes Schaf“ – vielleicht war es auch der „Brikettkopf“, jedenfalls eine despektierliche Anspielung auf Amins Hautfarbe – sei nicht mehr da. Da er im Sommer ein Moped geklaut habe und irgendwelche Dinge angestellt, sei er jetzt „weg“. Er habe ohnehin nicht in die Klasse gepaßt. Das sei gut für uns, denn jetzt beginne der „Ernst des Lebens“. Es erschreckt mich bis heute, mit welcher Selbstverständlichkeit wir dieses Narrativ akzeptierten. Ich erinnere mich noch an die ersten Schultage in der neuen Klasse zu Beginn des neunten Schuljahres an der EOS „Bertolt Brecht“, als ich Amin zu mir nach Hause brachte und wir „Scotland Yard“ spielten, das strategische Brettspiel aus dem Westen, das ich gerade geschenkt bekommen hatte.


Doch heute beginnt alles mit dem Brexit. Ein Klassenkamerad, der die letzten Jahrzehnte in London gelebt hatte, ist jetzt zurückgekehrt. Seinem in England geborenen Sohn, der zu seiner Volljährigkeit den britischen Paß beantragte, wurde dieser verweigert, weil die Mutter damals noch nicht privat versichert gewesen sei. Noch unglaublicher ist für mich das Warten auf den Klassenlehrer, der in der Gaststätte noch immer nicht erschienen ist. Auf meine Nachfrage erklärt mir Diana, der sei doch vor einem Jahr in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Hieß die Frage damals in der Englischstunde „What’s up?“, lautet die Antwort heute: WhatsApp.


Denunziert wird aber noch handschriftlich. Eine Mitschülerin, heute Elektromeister-Ausbilderin, berichtet mir von einer Schulung über interkulturelle Kompetenz durch eine dreiköpfige Kommission, deren Mitarbeiter sich permanent Notizen machten. Anschließend gingen diese als belastendes Beweismaterial an den Zentralverband des Handwerks, um die „fremdenfeindliche“ Haltung der regionalen Handwerkskammer aktenkundig zu machen. Halb ironisch, halb resigniert sagt mir die Mitschülerin: „Jetzt sind wir eben alle Nazis.“