© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Die DDR-Bürgerrechtler als die letzten Romantiker der Bundesrepublik
Am Ziel ihrer Wünsche
Thorsten Hinz

Von den DDR-Bürgerrechtlern ist außer Erinnerungen und einer Handvoll unverbesserlicher Dissidenten (darunter Angelika Barbe, Vera Lengsfeld, Siegmar Faust, Arnold Vaatz) nur der Name „Bündnis 90“ geblieben. Und selbst der gehört seit 1993 den West-Grünen, die mit der Wiedervereinigung überhaupt nichts im Sinn gehabt hatten und 1990 mit dem Slogan zur Bundestagswahl antraten: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.“

Kein freiheitlicher Geist mehr, der von ihnen ausgeht, nirgends: kein Protest gegen staatliche Aufrufe zum Denunziantentum; gegen die Stigmatisierung und Existenzvernichtung politischer Gegner; kein Widerspruch gegen den agitatorischen Furor der Medien; gegen die Klima-Indoktrination an den Schulen, den politischen Mißbrauch und die Übergriffigkeit des Verfassungsschutzes; gegen politisch motivierte Hausdurchsuchungen. Und erst recht keine Kritik am „Kampf gegen Rechts“, dessen Zweck es ist, die Gesellschaft zur Hetzmeute von Rechtgläubigen zu formieren.

Im Gegenteil, die Veteranen von 1989/90 (und etliche Trittbrettfahrer) traten am 20. August mit einem Appell an die Öffentlichkeit, dessen Kernsatz lautet: „Für die Demagogen der AfD sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.“ Der bürgerrechtliche Leitgedanke: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ wurde damit revidiert. Die Revision wiegt schwer, denn sie betrifft das moralische Kapital, auf das die Autorität der Altrevolutionäre sich stützt. Der Schlußsatz des Appells: „Mit der Wiedervereinigung erfüllten sich die Ziele der Revolution: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, offene Grenzen, ein geeintes Europa und Wahrung der Menschenrechte“, ist angesichts der aktuellen Entwicklung eine opportunistische Schönfärberei und erneuert alte Zweifel an der Urteilskraft der Unterzeichner. Die Frage nach der Bedeutung und Kompetenz der DDR-Bürgerrechtler und ihre aktuelle Relevanz muß neu gestellt werden.

In seinem Klassiker „Masse und Macht“ prägte Elias Canetti den Begriff „Massenkristalle“. Darunter verstand er „kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von großer Beständigkeit, die dazu dienen, Massen auszulösen“. Klein und rigid waren die Bürgerrechtsgruppen ganz sicher, aber Massen haben sie nicht ausgelöst. Es war keineswegs so, daß die Leute, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen, von den Ideen Bärbel Bohleys – um die meistgenannte Figur jener Tage und Wochen zu nennen – inspiriert oder erfüllt waren. Weder intellektuell noch organisatorisch, noch politisch war die Bürgerrechtsbewegung in der DDR mit den polnischen und ungarischen Oppositions- und Reformbewegungen vergleichbar, die 1989 sofort eine politikfähige Gegenelite aus dem Boden stampften.

Ihre politische Bedeutung ergab sich vor allem aus dem Zusammenspiel mit den bundesdeutschen Medien, die in der DDR die Funktion einer Gegenöffentlichkeit erfüllten. Diese brauchten vorzeigbare Vertreter, die den Mut hatten und in der Lage waren, der allgemeinen, diffusen Unzufriedenheit Gesicht und Stimme zu verleihen. So wirkten sie als „Medienkristalle“ in die DDR zurück. Ihre hauptsächliche Bedeutung lag in der Zeugenschaft und der reinen Präsenz des oppositionellen Geistes, nicht jedoch im Gehalt ihrer Aussagen, in denen die Vision eines „erneuerten“, eines „wahren“ Sozialismus als politisches Ziel aufschien. Zur materiellen Gewalt wurde der Überdruß an der SED-Herrschaft erst unter dem Eindruck der Massenflucht.

Die Gründe für den politisch-intellektuellen Provinzialismus der DDR-Opposition lagen in den objektiven Besonderheiten des kleineren deutschen Teilstaates, der eine unmittelbare Kriegsbeute der Sowjetunion war. Weil ein zweiter kapitalistischer Staat auf deutschem Boden automatisch in Richtung Bundesrepublik abdriften würde, es aber undenkbar schien, daß Moskau eine Westdrift zulassen würde, markierte der Reformsozialismus das Maximum an politischer Phantasie.

Viele Bürgerrechtler entstammten und bewegten sich im kirchlichen Raum und hingen dem Schuldprotestantismus an, der gleichermaßen in Ost wie West wirkte. Das führte sogar zur partiellen Identifizierung mit dem staatlichen Antifaschismus. 

Daneben gab es subjektive Gründe. Viele Bürgerrechtler entstammten und bewegten sich im kirchlichen Raum und hingen dem Schuldprotestantismus an, der gleichermaßen in Ost wie West wirkte. Das führte sogar zur partiellen Identifizierung mit dem staatlichen Antifaschismus, der das Machtmonopol der SED ideologisch untermauerte. Sie klingt noch in dem Appell „Für unser Land“ nach, der Ende November 1989 von Künstlern, Intellektuellen und Bürgerrechtlern zur Rettung der DDR verabschiedet wurde: „Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“ Diese Konditionierung führte zu bizarren Situationen. Als eine bürgerbewegte Autorin den inhaftierten Ex-Stasi-Minister Erich Mielke aufsuchte, der sich in trotziges Schweigen zurückgezogen hatte, wollte sie unter Hinweis auf den gemeinsamen Antifaschismus eine Gesprächsbasis mit dieser Angstfigur herstellen.

Mit der Gründung des Neuen Forums gewann die Bewegung eine begrenzte politisch-operative Relevanz, die bis zum November andauerte. An der öffentlichen Vorstellung am 19. September 1989 in der Berliner Gethsemane-Kirche nahmen rund 200 Personen teil. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin entsandte einen Beobachter, der darüber an das Bundeskanzleramt berichtete: Bärbel Bohley habe mitgeteilt, daß schon 2.000 Personen den Gründungsaufruf unterzeichnet hätten. Er sei „bewußt allgemein gehalten, um für alle offen zu sein. Sie selbst wisse nicht, was eines Tages aus der Bewegung werden könne. Sobald die SED reformiert sei, könne sich das Neue Forum auflösen.“ Das war der politische Bewußtseinsstand der wichtigsten Oppositionsgruppierung.

Kein Wunder, daß der Abgesandte der Ständigen Vertretung desillusioniert war: „Die Veranstaltung zeigte, daß die Arbeit neuer und alter Gruppen in der DDR weit entfernt ist von effektiver Oppositionsarbeit. Die in unserer Presse veröffentlichten Berichte über die ‘Opposition’ in der DDR sind übertrieben und aufgebauscht. Bärbel Bohley konnte keine Orientierung geben, ihr amateurhaftes Auftreten zeigte deutlich die Schwierigkeiten bei inhaltlicher und organisatorischer Umsetzung ihrer Ziele. Der Teilnehmerkreis bestand, soweit erkennbar, ausschließlich aus Intellektuellen, unter denen keine politischen Talente sichtbar wurden, die eine solche Versammlung zu einheitlicher Willensbekundung führen können. Die meisten Besucher der Veranstaltung verließen die Kirche ebenso vereinzelt und hilflos, wie sie gekommen waren. (…) Das Neue Forum wird durch derartige Veranstaltungen kaum zur Mobilisierung beitragen. (…) Die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes wird auch weiterhin dafür sorgen, daß die Aufbruchstimmung nicht zu einem tatsächlichen Aufbruch wird.“

Im Laufe der nächsten Wochen trugen sich Hunderttausende in die Mitgliedslisten ein, ohne daß das Neue Forum aus der Rolle eines symbolischen Bezugspunkts und eines Synonyms für Veränderungen hinauswuchs. Der sympathisierende Schriftsteller Stefan Heym sprach rückblickend von „Leuten ohne Konzeption (...), von Dilettanten“.

Das bestätigte sich am „Runden Tisch“, der den Übergang von der SED-Herrschaft zur parlamentarischen Demokratie organisieren sollte und vom Dezember 1989 bis zum März 1990 zusammentrat. Als Vorbild galt der „Runde Tisch“ in Polen, der zwischen Februar und April 1989 getagt hatte. In Polen war es allerdings darum gegangen, eine brüchige, aber noch intakte Macht zum friedlichen Rückzug zu bewegen, indem man ihr einen weichen Übergang offerierte. In der DDR hingegen erhielt die geschlagene Macht Gelegenheit, ihre Transformation zu betreiben und echte revolutionäre Akte zu verhindern – zum Beispiel die entschädigungslose Enteignung der Parteipresse, die bald darauf von westlichen Medienkonzernen übernommen wurde. Die Opposition hatte dem geschickt agierenden Gregor Gysi, der die SED vertrat, nichts entgegenzusetzen und verlor sich im Gezerre um Verfahrensfragen und Nebensächlichkeiten.

Es wäre das Vorrecht von Bürgerrechtlern, die autoritären Tendenzen in der Gegenwart und die sich mehrenden DDR-Déjà-vus zu benennen. Doch die meisten von ihnen haben sich mit den Verhältnissen arrangiert, aus Unvermögen oder Eigeninteresse.

Bereits mit dem Mauerfall hatte die Bürgerrechtsbewegung rasant an Bedeutung eingebüßt. Ihre Vision einer eigenständigen, demokratisch-sozialistischen DDR löste sich binnen Wochen in Luft auf. Die Bürgerrechtler hatten konzeptionell nichts mehr anzubieten und wirkten wie aus der Zeit gefallen. Bei den freien Wahlen zur Volkskammer im März 1990 erzielte ihr Parteien-„Bündnis 90“ magere 2,9 Prozent. Politisch standen sie vor dem Nichts und persönlich vor einer prekären Zukunft.

Um so wichtiger war jetzt ihr moralisches Kapital, das sich am Umfang ihrer Stasi-Akten bemaß. Sie erreichten den Erhalt der Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit und den Zugang dazu.

Der Erfolg war zweischneidig. Einerseits ermöglichte er historisch-politische Aufklärung und verschaffte vielen Diktatur-Opfern Genugtuung. Anderseits verstärkte er die allgemeine Lähmung und Duldungsstarre in der Ex-DDR. Eine Gesellschaft, die ohnehin unter dem Dauerstreß eines allumfassenden Umbruchs stand, wurde durch immer neue, sensationsheischende Stasi-Enthüllungen und die Stasi-Überprüfung für Bewerber in den öffentlichen Dienst abwechselnd in Hysterie, in den Beichtstuhl, auf die Therapiecouch oder auf die Strafbank versetzt. Derart neutralisiert, versäumten die Ex-DDR-Bürger die politischen Entscheidungsprozesse, die sie unmittelbar betrafen und gerieten gegenüber westdeutschen Bewerbern, die auf die Posten in Politik, Verwaltung und Hochschulen drängten, zusätzlich in Nachteil. Aus der Entfremdung zwischen Bürgern und Bürgerrechtlern wurde jetzt Abneigung, weil sie als Anheizer und Mit-Profiteure einer kollektiven Degradierung wahrgenommen wurden.

Viele Ex-DDR-Bürger, denen 1990 die Wiedervereinigung gar nicht schnell genug gehen konnte, befinden sich heute auf Distanz zur real existierenden Bundesrepublik und wählen die AfD. Die meisten Bürgerrechtler wiederum, die die Wiedervereinigung damals partout nicht wollten, sehen sich am Ziel ihrer Wünsche. Wie erklärt sich das?

Anschauungsmaterial bietet ein Aufsatz, den Uwe Schwabe, ein Erstunterzeichner der Erklärung vom 20. August, zeitgleich in der FAZ veröffentlichte. Schwabe, der in den achtziger Jahren im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche tätig war, ist heute am Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit befaßt.

Die Überschrift: „Warum ticken die Ossis so?“ enthält die ganze fade Essenz des Textes. Der Verfasser hat die West-Perspektive, die Sicht der alten Bundesrepublik, übernommen und erstellt einen Krankenbericht: Die Verhaltensweisen der „Ossis“ seien „Folgen der jahrzehntelangen Abschottung in der DDR“ und der „fehlenden Begegnung mit fremden Kulturen“ usw. Solche Auslegungen klangen in den 1990er Jahren einigermaßen plausibel. Doch schon damals boten sie keine vollständige Erklärung, weil sie die – meist einseitige – deutsch-deutsche Interaktion außer Betracht ließen. Heute wirken sie nur noch anachronistisch.

Die Perspektive der alten Bundesrepublik verdient eine Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt, sie muß aus der gleichen reflexiven Distanz betrachtet werden, aus der sie den Osten in den Blick nimmt. Dann relativieren sich ihre Maßstäbe, und es ergibt sich ein übergeordneter Blickwinkel, aus dem die vermeintlich helle „Weltoffenheit“ des Westens problematischer erscheint als der vermeintlich dunkle Provinzialismus des Ostens.

Es wäre das Vorrecht von Bürgerrechtlern, die bösartigen und autoritären Tendenzen in der Gegenwart und die sich mehrenden DDR-Déjà-vus zu benennen. Doch die meisten von ihnen haben sich mit den Verhältnissen arrangiert, sei es aus Unvermögen, Müdigkeit oder Eigeninteresse. Die letzten Idealisten der DDR erweisen sich als die letzten Romantiker der Bundesrepublik. Zum heutigen Deutschland haben sie nichts zu sagen.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Geopolitik und die deutsch-französische Freundschaft („Ein Ungleichgewicht“, JF 27/19).

Foto: Blick in die evangelische Kirche Oberschöneweide in Ost-Berlin während einer Diskussionsveranstaltung mit dem „Neuen Forum“ am 26. Oktober 1989, am Podium (2. v. l.) die Mitbegründerin der Gruppe Bärbel Bohley: Zum heutigen Deutschland haben die damaligen Bürgerrechtler nichts zu sagen