© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Richten über den Kommunismus
Politiker, Wissenschaftler und Künstler weltweit fordern Aufarbeitung der ideologischen Verbrechen
Mathias Pellack

Über 200 Wissenschaftler, Politiker, Journalisten und Künstler weltweit fordern ein „Nürnberg des Kommunismus“. In ihrem Appell, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, schreiben sie: „Der dreißigste Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gibt uns eine unschätzbare wertvolle Gelegenheit.“ Nicht nur um einen „dringend benötigten Beitrag zur Erinnerung“ zu liefern, sondern auch um eine „breit aufgestellte und vorwärtsgewandete antitotalitäre Kultur zu fördern“. Etwa einhundert Millionen Menschen seien dem Kommunismus – dieser totalitären Ideologie, die Lenin, Stalin, Mao und andere zur mörderischen Diktatur geformt haben – zum Opfer gefallen. Auch wenn es problematisch ist, Abartigkeiten quantitativ zu vergleichen, kann es klug sein, die schiere Unmenschlichkeit des immer noch in einigen Staaten der Erde herrschenden Kommunismus zu bemessen, wenn man seine Opferzahl mit jener des Zweiten Weltkriegs vergleicht.

Die Verurteilung der NS-Täter war beispielhaft

Hohe Schätzungen gehen dabei von 65 Millionen Opfern aus wobei die Totenzahlen in der Sowjetunion und in China am schwersten einzuschätzen sind. Auf jeden Fall sind in diesen Zahlen die nationalsozialistischen Opfer des millionenfachen Judenmordes enthalten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden viele dieser Verbrechen der besiegten Hitler-Diktatur in den Nürnberger Prozessen 1945 und 1946 sanktioniert und NS-Täter verurteilt. Die Initiatoren schreiben: „Diese Prozesse zeigten der Welt, daß Nationalsozialismus schlecht war, daß er zerstörerisch für das eigene Volk war, und daß er nie wieder akzeptiert werden würde – nirgendwo auf der Welt.“ Der Hauptinitiator Renato Cristin der Initiative „Nürnberg des Kommunismus“ bringt gegenüber der jungen freiheit die Sache auf dem Punkt: „Nationalsozialismus und Kommunismus – beide sind schlicht böse.“ Wie die ähnlich argumentierende Totalitartismus-Kritikerin Hannah Arendt ist auch er Philosoph. Er lehrt an der Universität Triest und schrieb das Buch „Memento Gulag“ mit dem aussagekräftigen Untertitel: „Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime“.

Auch das Europäische Parlament  habe in einer einschlägigen Resolution „Nationalsozialismus und Kommunismus fast gleichsetzt“. Dies sei in seinen Augen ein erster institutioneller Schritt in die richtige Richtung. In den kommenden Monaten werde sich das Parlament noch weiter mit der Frage befassen.

Heute, dreißig Jahre nach dem vermeintlichen Ende des Kommunismus, fehle eine Aufarbeitung der Verbrechen des Kommunismus weitgehend. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein, erklärt Cristin. Die Idee, ein „Nürnberg des Kommunismus“ abzuhalten, habe er vor einem halben Jahr vom kürzlich verstorbenen sowjetischen Dissidenten und Journalisten Wladimir Bukowski übernommen. Dieser schlug vor, über die kommunistischen Verbrechen ebenfalls einen ähnlichen Gerichtsprozeß abzuhalten. Für den Phänomenologen Cristin ist das ein gutes und starkes Symbol. „Es ist klar, daß das Wort ‘Nürnberg’ eine Metapher ist, ein symbolischer Begriff, der kein mit Nürnberg identisches internationales Tribunal bezeichnet, sondern ein historisches Bedürfnis zum Ausdruck bringt und auf ein kulturelles und politisches Ergebnis abzielt, das in Wirklichkeit heute wirksamer wäre als ein Gericht im engen Sinne des Wortes.“

Die Frage, warum die Verbrechen im Namen des Kommunismus bisher nicht in gleicher Weise aufgearbeitet wurden, bleibt derweil unbeantwortet. Vielleicht auch, weil der Kommunismus eben nicht komplett besiegt wurde. So bezeichnet sich die Volksrepublik China immer noch als kommunistisch, wenngleich ihre Wirtschaftsform kapitalistisch ist. Ein weiterer Grund dürfte sein, daß das heutige Rußland als ehemaliger Kern der Sowjetunion viele gesellschaftliche Strukturen übernommen hat und kommunistische Kader bis heute eine wichtige Rolle spielen. Doch auch wenn viele der Täter mittlerweile tot sind. Die Opfer bleiben.

Das sind nicht nur die Toten. Zu  den Opfern zählt die Petition auch jene, die unter Unterdrückung litten oder durch staatlich forcierten Klassenhaß drangsaliert wurden. „Dies sei, wie Massen- oder Völkermord, unvermeidlich unter kommunistischen Regimen,“ werfen die Initiatoren der Ideologie vor.

Historiker, Politiker und Künstler unterzeichnen

Eine besonders perverse Form der Entmenschlichung erfuhr auch Wladimir Bukowski. Der jüngst am 27. Oktober verstorbene Dissident ist als erster der über 200 Unterzeichner gelistet. Er wurde Opfer einer kommunistisch manipulierten Psychiatrie. 1963 hatten ihn Leningrader Psychiater als „unverbesserlich“ klassifiziert, weil er nicht davon abrücken wollte, das Buch eines jugoslawischen Dissidenten zu vervielfältigen.

Die weltweite Relevanz des Aufrufs zeigen die Unterschriften von Pedro Carmona, der 2002 während eines Putsches gegen Hugo Chavez für drei Tage Übergangspräsident Venezuelas war, oder Daniel Pipes, Historiker und Publizist sowie Gründer des US-amerikanschen „Middle East Forums“, genauso wie die frühere DDR-Bürgerrechtlerin, Publizistin und Politikerin (Grüne, dann CDU) Vera Lengsfeld. Auch der Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski, Professor an der Humboldt Universität in Berlin, oder der Würzburger Historiker Peter Hoeres stehen auf der Liste. Ebenso wie Mária Schmidt, gleichfalls Historikerin, welche sich als Generaldirektorin des Budapester „Hauses des Terrors“ einen Namen als herausragende Kritikerin der Diktaturen des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Erich Weede, Bonner Professor für Soziologie, und Rasa Jukneviciene, ehemalige litauische Verteidigungsministerin genauso wie Lukasz Andrzej Kaminski, der Präsident des polnischen Instituts für Nationales Gedenken haben unterschrieben. Auch der Autor des „Schwarzbuch des Kommunismus“, der französicher Historiker Stéphane Courtois, zählt zu den Erstunterzeichnern.

Für Cristin ist die Internationalität ein gutes und wichtiges Zeichen. Hinter dem Aufruf steht keine Institution, die Initiatoren seien in vielerlei Hinsicht eine spontane Vereinigung. Alle Unterzeichner fordern: „Die Verbrechen des Kommunismus gegen die Menschlichkeit müssen bekannt gemacht und bestraft werden.“ Der Aufruf wurde am 7. November in Rom vorgestellt. In Madrid, Triest, Bukarest und Washington seien weitere Veranstaltungen geplant, deren Ziel es ist, „die dem Kommunismus innewohnende Unmenschlichkeit und die Unvereinbarkeit mit einer freien Gesellschaft“ aufzuzeigen.

Den englischsprachigen Aufruf und die Möglichkeit zu unterzeichnen, finden Sie hier:  www.nuremberg.vladimirbukovsky.com