© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Die Algerier waren die Syrer der Adenauer-Ära
Bonns erstes „Nafri“-Problem: Ende der fünfziger Jahre kamen etwa 10.000 Menschen aus dem Bürgerkriegsland
Dirk Glaser

In den 1950ern zerfiel Frankreichs Kolonialreich. Indochina ging 1954 verloren, die Dekolonisation in Westafrika konnte Paris nur bremsen, nicht unterdrücken, die im Libanon noch behauptete Machtbasis im Nahen Osten zerbröselte 1958, Tunesien mußte 1956 in die Unabhängigkeit entlassen werden. Es blieb in Nordafrika noch das 1830 eroberte Kronjuwel Algerien übrig, das seit 1848 offiziell zum französischen Staatsgebiet gehörte. Dort gaben am 1. November 1954 Untergrundaktivisten des Front de Libération Nationale (FLN) mit einer Serie von Anschlägen den Startschuß zum extrem blutigen Unabhängigkeitskrieg, der 1962 mit der Loslösung Algeriens vom „Mutterland“ endete.

An der Bonner und der Pankower Republik ging der Algerienkrieg scheinbar spurlos vorüber, da die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Deutschland bereits in Versailles von seinen Kolonien „befreit“ hatten. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich jedoch, daß sich die Bundesregierung des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer seit 1957 verstärkt mit den unschönen Fernwirkungen des für Frankreich desaströsen Engagements auseinandersetzte. Denn FLN, dessen Konkurrenz Mouvement National Algérien (MNA) und der französische Geheimdienst verlagerten ihren Partisanenkampf im Kleinformat auf das Territorium des Bonner Staates. 

So verübten französische Agenten teilweise „erfolgreiche“ Bombenattentate auf deutsche Waffenhändler in Hamburg, Frankfurt und München, einigen Lieferanten von FLN und MNA. Die Algerier wiederum, die illegale Waffendepots anlegten, eifrig Propagandamaterial druckten, Geld von ihren Landsleuten erpreßten oder sie für den Kampf in der Heimat rekrutierten, bekriegten sich untereinander. Aufsehen erregten 1959 vier im Saarland und in Köln ermordete Nordafrikaner, die den Verdacht bestätigten, daß FLN und MNA im Notfall auch in ihrem „Gastland“ nicht vor der Eliminierung ihrer jeweiligen Feinde zurückschreckten.

Diese Geschehnisse hat die zeithistorische Forschung in den letzten dreißig Jahren gründlich aufgearbeitet. Einen dabei freilich vernachlässigten Aspekt stellt das aus aktuellem Anlaß Interesse verdienende Problem der Zuwanderung von Algeriern dar, die als „Flüchtlinge“ in die Bundesrepublik strömten. Mit ihnen beschäftigt sich ein Aufsatz des an der Fernuniversität Hagen tätigen Historikers Lucas Hardt (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3/2019).

Es wäre zwar reichlich überspitzt formuliert, die Algerier als die Syrer der Adenauer-Ära zu bezeichnen. Aber für einen Vergleich zwischen der früheren und der heutigen Grenz-, Ausländer- und Asylpolitik taugt das damalige „Algerien-Regime“ genauso wie für einen Vergleich zwischen dem Staatsverständnis der Bonner und der Berliner Funktionseliten. Im Unterschied zur Masseneinwanderung 2015 handelte es sich beim Zuzug damaliger Algerier um ein quantitativ nahezu belangloses Phänomen. Genaue Zahlen liegen nicht vor, aber Schätzungen gehen von höchstens 10.000 Personen aus. 

Trotzdem zeigte sich die Bundesregierung fest entschlossen, ihre Grenzen zu schützen. Darüber bestand überparteilicher Konsens nach der Devise, so wenig wie irgend möglich hineinzulassen, so viele wie möglich wieder loszuwerden. Erleichtert wurde diese klare, nicht nur aus innenpolitischen Sicherheisterwägungen bezogene Position, die auch die „Ungleichbehandlung französischer Staatsangehöriger auf der Grundlage ethnischer Kriterien“ rechtfertigte, ausgerechnet durch die Pariser „Polizeistaats“-Politik, die auf den östlichen Nachbarn Druck ausübte zwecks erhöhter Überwachung „französischer Muslime“. Und die es verhinderte, daß Bonn französischen Staatsbürgern algerischer Herkunft politisches Asyl gewähren konnte. Stattdessen erhielten die unter ständiger polizeilicher Beobachtung stehenden Ausländer nur eine besondere Aufenthaltsgenehmigung, die ihnen zwar die Arbeitsaufnahme gestattete, es jedoch zugleich ermöglichte, die Überprüfung ihrer Asylansprüche zu umgehen.

„Vorurteile gegenüber dunkelhäutigen Menschen“

Für den Jung-Historiker Lucas Hardt zeugt dieses „westdeutsche Sonderregime für Algerier“ vom langen Schatten der dunklen NS-Vergangenheit. Demnach hätten um 1960 immer noch „Vorurteile gegenüber dunkelhäutigen Menschen“ und „rassistische Stereotype“ das ausländerrechtliche Handeln bestimmt, das überdies weiterhin der Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 folgte, die rigoros die Ausweisung bei Straffälligkeit, illegaler Beschäftigung und Mittellosigkeit vorsah. „Vorurteile“, wie sie seit 1920 entstanden seien, als Frankreich vertragswidrig mit 25.000 farbigen Kolonialsoldaten in Frankfurt einmarschierte und rechtsrheinisches Gebiet besetzte. Diese „Schwarze Schmach“ sei in den 1950ern noch in der kollektiven Erinnerung sehr lebendig gewesen, auch die von schwarzen Soldaten begangenen Morde und Vergewaltigungen, die Hardt kontrafaktisch „angebliche Sexualdelikte“ nennt. Die administrative, auf äußere und innere Sicherheit bedachte, „nicht flüchtlingsfreundliche“ Praxis des „Algerier-Regimes“ erscheint damit bei Hardt retrospektiv einmal mehr im neudeutsch üblichen „Rassismus“-Raster. 

Was ihn hindert, mehr als nur eine Fußnote zur Zerstörung einer zähen Legende über das grundgesetzliche verankerte Asylrecht beizutragen. Während der Dispute über das Asylrecht der Algerier seien sich einige Politiker nämlich darüber klar geworden, welche Büchse der Pandora die Verfassung barg. Hatten sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes für das Asylrecht doch keineswegs am exklusiven Typus des im 19. Jahrhundert vorherrschenden politischen Rebellen orientiert. Vielmehr schnitten sie dieses Recht sogleich auf den politisch-passiven Wirtschafts- und Armutsflüchtling des 20. Jahrhunderts zu.