© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Der Wendehals ist bedroht
Der seit 30 Jahren obsolete DDR-Todesstreifen erhitzt heute als „Grünes Band“ die Gemüter
Paul Leonhard

Naturschützer schlagen Alarm. Ausgerechnet der Wendehals ist bedroht. Aber auch das Braunkehlchen. Und Silberdistel und Küchenschelle drohen auszusterben. Schuld ist die Natur. Diese holt sich den einst vom SED-Regime angelegten Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze zurück. Konkret geht es um die Kalk-Mager-Wiesen in den Landkreisen Hildburghausen, Sonneberg, Coburg und Kronach, die einst einer trockenen Savanne glichen, weil die DDR-Grenzer freies Schußfeld haben sollten, längst aber von mannshohem Gestrüpp aus dornigen Schlehenbüschen überwuchert werden.

Die schon seit 1952 gut abgesicherte innerdeutsche Grenze war zwar tödlich für Menschen, die das sozialistische Arbeiterparadies gen Westen verlassen wollten, entwickelte sich aber – analog zu den vielen Truppenübungsplätzen – im Verlauf der Jahrzehnte zu einem Rückzugs- oder Neuansiedlungsort für zahlreiche gefährdete Tier- und Pflanzenarten. Denn abgesehen vom unmittelbaren Todesstreifen, der regelmäßig umgepflügt und mit giftigen Herbiziden völlig pflanzenfrei gehalten wurde, wurde der mindestens 500 Meter breite Schutzstreifen und auch die übrige Fünf-Kilometer-Sperrzone weitgehend der Natur überlassen.

Querschnitt durch viele deutsche Landschaften

Mehr als 1.200 seltene Tiere und Pflanzen haben hier Naturschützer bisher nachweisen können, darunter seltene Orchideen wie Frauenschuh, die Keiljungfer-Libelle, den Abbiß-Scheckenfalter, das Braunkehlchen, den Neuntöter, den Schwarzstorch, den Eisvogel und den Fischotter. Dazu kommt, daß das „Grüne Band“ einen Querschnitt durch viele Landschaften darstellt: von norddeutschen Niederungsgebieten bis zu Mittelgebirgen. So finden sind Brachflächen, verbuschte Bereiche, Altgrasfluren, Pionierwald, Gewässer, Feuchtgebiete und Moore – und eben Kalk-Mager-Wiesen, die von Gestrüpp überwuchert werden, weil keine Grenzschutzkompanie dieses mehr herausreißt.

Schwere Technik soll nun die Natur zum Schutz der Natur zurückdrängen. Aber der Umgang mit dem früheren Grenzstreifen gefährdet nicht nur spezialisierte Tiere und Pflanzen, sondern auch Regierungen. In Sachsen-Anhalt drohten die Grünen die Kenia-Koalition platzen zu lassen, falls CDU und SPD nicht einem Gesetz zustimmen, das die Biotopkette zum Nationalen Naturmonument erhebt. Die Christdemokraten hatten auf Zeit gespielt, weil sie eine Enteignung von Landwirten befürchteten. Andererseits drohte die altmärktische Stadt Salzwedel, ihr 14-Millionen-Euro-Finanzloch ganz „ungrün“ zu stopfen: mit dem Verkauf ihres an der Grenze zu Niedersachsen gelegenen, 1.400 Hektar großen Stadtforstes an den Meistbietenden. Dieser Feuchtwald besteht aus alten Schwarzerlen, Eschen, Stieleichen, Rotbuchen und verschiedenen Ahornarten sowie Moormächtigkeiten von bis zu vier Metern. Er ist seit rund 800 Jahren im Besitz der Stadt. Damit wäre nicht nur ein weiteres Stück aus dem ohnehin schon lückenhaften „Grünen Band“ in Sachsen-Anhalt gerissen, sondern auch ein Negativbeispiel gesetzt worden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) fürchtet, daß weitere klamme Kommunen auf die Idee kommen könnten, ihre Etats durch den Naturflächenverkauf aus dem einstigen Sperrgebiet zu sanieren und so das „Rückgrat eines einzigartigen nationalen Biotopverbundes“ zerstören.

Zum „Nationalen Naturmonument“ erklärt

Deswegen jubelte der BUND, als am 24. Oktober der Magdeburger Landtag das zwischen 50 und 200 Meter breite „Grüne Band“ zum Nationalen Naturmonument erklärt hatte. Es war der lange angekündigte Beitrag der Landesregierung zum 9. November, dem 30. Jahrestag des Mauerfalls. Mit dem Gesetz stehen nach den 763 Kilometern in Thüringen nun bislang insgesamt 1.106 Kilometer unter Schutz. Das sind drei Viertel des ehemaligen Grenzstreifens. Jetzt sei es an der Zeit, daß sich auch die anderen Anrainerstaaten zu diesem Erbe bekennen und ihre Anteile als Nationales Naturmonument ausweisen, fordert Hubert Weiger.

Der BUND-Chef ist clever genug, in seiner Argumentation ebenfalls das Jubiläum der Grenzöffnung aufzugreifen. Er verweist nicht nur auf Biodiversitätskrise und kostbare Biotope, sondern auch auf „Relikte der ehemaligen innerdeutschen Grenze, wie alte Wachtürme, Reste des Grenzzauns, geschleifte Ortschaften oder andere Erinnerungsorte“, die es dauerhaft zu sichern und für künftige Generationen zu bewahren gelte. Der Dreiklang aus Naturschutz, Grenzgeschichte und Kultur am „Grünen Band“ sei für viele Touristen äußerst interessant, wirbt Weiger. 

Die angesprochenen Länder sperren sich, die ihnen zustehenden Flächen vom Bund zu übernehmen und unter Schutz zu stellen. Vielleicht auch deswegen, weil aus Thüringen Zahlen bekannt sind, nach denen beispielsweise die Wiederherstellung der Kalk-Mager-Wiesen mit seltenen Pflanzen wie Silberdistel oder Küchenschelle rund 10.000 Euro pro Hektar kostet. Schließlich mahnte Dieter Leupold, Projektleiter Grünes Band Sachsen-Anhalt, bereits die Regierung in Magdeburg, daß sich das Land mit der Schutzgebietsausweisung eine Selbstverpflichtung auferlegt habe und künftig ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bereitzustellen habe, damit die Ziele des Gesetzes umgesetzt werden können.