© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Geschichte umgedeutet
9. November: Der 30. Jahrestag des Mauerfalls wird zur Instrumentalisierung genutzt
Vera Lengsfeld

Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht, ist mein Lieblingsbonmot des polnischen Satirikers Stanislaw Jerzy Lec, das ein Dilemma auf den Punkt bringt. Geschichte wird immer wieder umgeschrieben, so wie es den jeweiligen Inhabern der Deutungshoheit gefällt. Wir haben anläßlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls gerade wieder eine Uminterpretierung und Instrumentalisierung der Friedlichen Revolution von 1989/1990 erlebt. Im Fokus der Neuinterpretation steht die Behauptung, es hätte sich nicht um ein aus der Opposition gegen die kommunistischen Diktaturen heraus entwickeltes Massenereignis gehandelt.

Jetzt soll alles nach Drehbuch gegangen sein, je nach Standpunkt des Betrachters, der Amerikaner oder der Sowjets. Der frühzeitige Versuch der PDS unter dem Parteivorsitz von Gregor Gysi, die SED zum eigentlichen Aktivisten der Wende, wie die Friedliche Revolution von Egon Krenz genannt wurde, zu machen, scheiterte zwar, aber die Wendeerfinder wittern wieder Morgenluft und hoffen, daß es diesmal klappt.

Damals brach im Schicksalsjahr 1989 nicht nur die Berliner Mauer, sondern plötzlich und unerwartet ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes System zusammen. Jeder, der im Kalten Krieg aufgewachsen ist, lebte mit der Annahme, daß die Blockkonfrontation zwischen sozialistischen und den freien Ländern der westlichen Welt zu seinen Lebzeiten anhalten würde. Noch am Morgen des 9. November gab es kaum jemanden, der meinte, am Abend würde die Mauer fallen.

In den vergangenen Tagen wurden immer wieder die Aufnahmen der historischen Pressekonferenz von Günter Schabowski gezeigt. Es war kaum vorstellbar, daß auf Schabowskis gestammeltes „unverzüglich“ sich Zehntausende Menschen aus ihren Sesseln und Sofas erheben und zum nächsten Grenzübergang gehen würden.

Ich war damals in der Bornholmer Straße dabei, als sich an der Bösebrücke Tausende Menschen versammelt hatten, die schließlich als erste den Schlagbaum anhoben und über die Brücke in Richtung Westen strömten. Kurz darauf geschah an Dutzenden Schlagbäumen dasselbe. Dieser spontane Massenaufbruch soll nach Drehbuch erfolgt sein, die Tausenden Menschen, die sich darauf besannen, daß sie eine Stimme hatten, die sie einsetzen konnten, sollen nur wieder Figuren eines Machtspiels gewesen sein? 

Nein, der Mauerfall geschah auf Druck der Bevölkerung, die beschlossen hatte, sich nicht länger einmauern zu lassen. Für einen weltgeschichtlichen Augenblick waren wir, wie der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) es ausdrückte, das glücklichste Volk der Erde. Nicht nur das: uns flogen weltweit die Sympathien zu. Das ist lang vorbei. Jetzt werden die Deutschen nur noch belächelt. 

Das liegt an  der Merkel-Regierung, deren Diktate man nicht mehr Politik nennen mag. Euro- und Klimarettung, Energiewende, ungeordnete Massenmigration, wachsender Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, zerfallende Infrastruktur, sich permanent verschlechternde Bildung, gescheiterte Integration – die Liste der Fehlentscheidungen ließe sich fortsetzen.

Die Unzufriedenheit der Bürger wächst und artikuliert sich immer deutlicher. Die Reaktion ist keinesfalls, über Fehler nachzudenken, sondern Kritiker werden stigmatisiert und an den gesellschaftlichen Pranger gestellt. Dabei scheut sich die Politik nicht, ein solch wunderbares Ereignis wie den Mauerfall zu instrumentalisieren. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sein Amt noch nie mit der gebotenen Neutralität ausgeübt hat, sondern immer parteiisch gewesen ist, warnte in seiner Rede zum 9. November vor neuen, unsichtbaren Mauern. Dabei gehört er zu den neuen Mauerbauern. Steinmeier bewarb im August 2018 als Bundespräsident ein Konzert in Chemnitz, bei dem linksradikale Bands auftraten, die eine „Messerklinge in die Journalistenfresse“ rammen wollten. Auch nach dem Skandalauftritt hielt er seine Unterstützung aufrecht.

Im 30. Jahr des Mauerfalls legte Steinmeier den Thüringern nach der Wahl die SED-Linke als koalitionsfähigen Partner ans Herz: „Die Linkspartei stand dort offenbar für die meisten Wähler nicht für radikale Veränderungen, sondern hat auch Bewahrendes verkörpert.“ Damit verhöhnt der Bundespräsident nicht nur die Verfolgten des SED-Regimes, sondern unterstützt eine Partei, die es bis heute ablehnt, in der DDR einen Unrechtsstaat zu sehen. 

Gleichzeitig werden die Ostdeutschen, die seine Analyse nicht teilen, als Hetzer oder Nazis gebrandmarkt. Wenn Steinmeier tatsächlich Mauern einreißen will, müßte er sich klar gegen die Stigmatisierung von Andersdenkenden aussprechen. Statt Linksradikale zu ermuntern, müßte er die linksextremistischen Ausschreitungen in Leipzig und anderswo verurteilen. 

Er müßte anprangern, daß Autos abgefackelt, Büros verwüstet, Wohnhäuser beschmiert und Menschen auf der Straße niedergeschlagen werden, weil sie der falschen Partei angehören. Das Credo der Friedlichen Revolution war Gewaltfreiheit. Davon war bei Steinmeier nichts zu hören. 

Kanzlerin Merkel hat am Samstag gemahnt, daß wir „Haß, Rassismus und Antisemitismus entschlossen entgegentreten müssen“. Das ist die Frau, die unsere Grenzen für Antisemiten, Frauenfeinde und Verächter unserer westlichen Lebensweise, unserer emanzipatorischen Errungenschaften, weit geöffnet hat. Sie ruft zur Verteidigung des Rechtsstaats auf, obwohl sie sich nicht an rechtsstaatliche Regeln hält. Mehr Heuchelei war selten.






Vera Lengsfeld war DDR-Bürgerrechtlerin und CDU-Bundestagsabgeordnete.