© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

„Das paßt aber nicht ins vorgegebene Bild“
Mit seinem neuen Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ hat der Schriftsteller Wolfgang Bittner ein meisterliches Werk über Deutschlands Untergang und Neubeginn anhand des Nachkriegsschicksals einer Vertriebenenfamilie aus Oberschlesien vorgelegt
Moritz Schwarz

Herr Dr. Bittner, Ihr neuer Roman erfährt eine erstaunlich geringe Resonanz in den Feuilletons. Warum?

Wolfgang Bittner: Daß „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ – im Gegensatz zur Resonanz in den sogenannten alternativen Internetmedien – in den Feuilletons der Leitmedien keine Beachtung findet, mag erstaunlich sein, aber es ist nicht unverständlich. Erstens schreibe ich, wie fast immer, mit gesellschaftspolitischem Hintergrund, viele etablierte Kritiker vertreten aber die Meinung, Literatur müsse „unpolitisch“ sein – natürlich in ihrem ideologisch geprägten Sinne. Zweitens gehe ich auf bestimmte Themen in einer Weise ein, die von solchen Kritikern nicht goutiert wird. Etwa auf die völkerrechtswidrige, inhumane Vertreibung Millionen Deutscher bei Kriegsende, den Verlust eines Drittels des ehemaligen Deutschen Reiches oder die einseitige Westbindung, als nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschland besetzt wurde und die Weichen für das gestellt worden sind, womit wir es bis heute zu tun haben. Das paßt nicht ins vorgegebene Bild.

Sie haben hervorragende und hochgelobte Bücher zu den deutschen zeitgeschichtlichen Zuständen geschrieben. Warum haben Sie dennoch keinen Ruf wie etwa Günter Grass oder Walter Kempowski?

Bittner: Die Wahrnehmung meines Werks war schon erheblich besser. Ich konnte etwa vierzig Jahre lang von meiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist vernünftig leben. Inzwischen habe ich mehr als sechzig Bücher veröffentlicht, darunter Romane, Geschichten, Satire, Lyrik, Kinder- und Jugendbücher, Rundfunkfeatures, Hörspiele und einen Film, auch politische Sachbücher und zahlreiche Essays, Abhandlungen und Artikel. Aber bekanntlich ist das Gedächtnis kurz, und wenn es nicht von Zeit zu Zeit aufgefrischt wird, gerät man schnell in Vergessenheit. Was meine Person angeht, sind Feuilletonisten und andere Journalisten der Mainstreammedien nicht an einer Auffrischung des Gedächtnisses ihrer Leserschaft interessiert. Das ist kein Wunder. Wer meine Bücher und publizistischen Arbeiten der letzten Jahre liest, etwa „Die Eroberung Europas durch die USA. Eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“ oder „Der neue West-Ost-Konflikt. Inszenierung einer Krise“ kann sich denken warum. Dennoch sind sie recht erfolgreich. Ich erreiche damit ein Publikum, das sich von der stattfindenden Indoktrination freigemacht hat und sich abseits des Mainstreams orientieren möchte. Und bei Youtube erzielen Interviews und Vorträge bis zu 200.000 Aufrufe. Es ist also nicht so, daß meine Arbeit keine Resonanz hätte.

„Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ ist ein sehr nüchterner Titel für ein Buch, das so viel und so schweres Schicksal wälzt. Ist den deutschen Dingen seit dem Zusammenbruch 1945 alle Poesie entwichen, daß der Name Ihres Romans sich wie eine Inhaltsangabe liest?

Bittner: Der Titel erschien mir passend, man weiß sofort, worum es geht oder doch gehen könnte. Er läßt andererseits viel Freiraum für die Schicksale in dem Roman. Ich halte nichts von diesen blumigen Titeln, hinter denen dann oft nicht viel mehr als Beliebigkeit oder artifizielles Wortgeklingel steckt. Mein Debütroman von 1978 hat den Titel „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“, ein anderer Roman heißt „Niemandsland“, ein Satirebuch „Die Abschaffung der Demokratie“.

Worum geht es Ihnen: Wollen Sie „nur“ die Geschichte Ihrer Protagonisten erzählen oder auf etwas darüber hinaus verweisen?

Bittner: Es hat lange gedauert, bis ich mich entschlossen habe, diesen Roman zu beginnen. Ich wollte über Menschen schreiben, die in der Zeit des Nationalsozialismus angepaßt oder widerständig im Osten Deutschlands gelebt haben, also in Schlesien, Ostpreußen, Pommern, dann mit den Schrecken des Krieges konfrontiert wurden und sich nach 1945 heimatlos in einem Barackenlager in Westdeutschland wiederfanden. Ich wollte ihre Geschichte mit all den Widersprüchlichkeiten in zum Teil schwierigsten Verhältnissen erzählen, und wie sie nach Kriegsende versuchten, allmählich wieder Fuß zu fassen. Nachdem ich den Anfang und die Erzählperspektive gefunden hatte, habe ich nach einer Konstruktion für meinen Erzählfluß gesucht, und dabei kamen mir zwei Kunstgriffe zustatten: Im ersten Teil des Buches die Sicht des in einer bürgerlichen Großfamilie aufwachsenden Kindes auf das Geschehen in seiner Umgebung – durchbrochen immer wieder von den Ereignissen der damaligen Kriegszeit. Und im zweiten Teil lasse ich die intelligente, tatkräftige Mutter in der provisorischen Küche der Barackenwohnung einen „Salon“ organisieren, in dem sich Verlierer des Krieges treffen und sich, aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen, kontrovers austauschen: Ein gescheiterter Getreidegroßhändler, ein ehemaliger Germanistikprofessor und Fliegermajor aus Königsberg, eine Lehrerin aus Gleiwitz, ein aus der Bahn geworfener baltischer Baron und der clevere Kriegskamerad des Vaters, Kurt Kaderabeck, der wegen Schiebergeschäften in Konflikt mit der neuen Staatsgewalt gerät. Dieses Personal eröffnete mir die Möglichkeit, Zeitzeugnisse in die Handlung einzubeziehen. Mehr hatte ich eigentlich nicht im Sinn, aber ich denke schon, daß vieles metaphorisch, allegorisch oder paradigmatisch ist – auch wenn ich es nicht darauf angelegt habe.

Ist Ihr Roman auch eine Art Geschichte der Deutschen? Nämlich als Volk ohne Heimat: im Osten physisch daraus vertrieben, im Westen seelisch – „vertrieben“ aus der eigenen Identität durch die Erfahrung des totalen Zusammenbruchs.

Bittner: Die Vertreibung aus der angestammten Heimat im Osten des Deutschen Reiches korrespondiert in der Tat mit einer, wie Sie es nennen, „seelischen Vertreibung“ der Bevölkerung im verbliebenen Restdeutschland. Übrigens zeigt der Buchumschlag im Hintergrund ein verschwommenes Foto der Schneekoppe, des höchsten Berges des schlesischen Riesengebirges. Und die Typographie die der Verlag dem Titel gegeben hat – „Die Heimat, der Krieg“ dunkel, und „der Goldene Westen“ hell gesetzt –, finde ich sehr passend. Obwohl in meinem Roman Heimat nicht schwarz dargestellt wird und der Westen nicht golden – vielmehr ist er eher rostig und den Heimatvertriebenen gegenüber anfangs feindlich.

Sie zeigen die Deutschen als Opfer von Russen und Polen, verweisen aber auch auf die Untaten von deutscher Seite. Allerdings ist eine Darstellung nur deutscher Untaten bekanntlich problemlos möglich. Während eine Darstellung nur der Untaten an Deutschen unmöglich ist, wenn man sich nicht vernichtender Vorwürfe aussetzen möchte. Deshalb die Frage: Verweisen Sie auf die deutschen Untaten wirklich nur aus Objektivität oder aus Schuldreflex, volkspädagogischer Absicht oder um sich vor Vorwürfen zu schützen?

Bittner: Ich habe in meiner Literatur nie taktiert, mich nie nach der Mode oder dem gerichtet, was genehm ist. Krieg ist immer etwas Furchtbares, das Menschen zu Opfern und zu Tätern werden läßt, da gibt es Verbrechen auf allen Seiten. Deswegen schreibe ich seit jeher gegen Gewalt und Krieg. Jedes Volk muß mit seiner Schuld umgehen, und es läßt sich auf deutscher Seite nicht leugnen oder relativieren, daß man Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene verhungern ließ, daß es auf sowjetischer Seite 27 Millionen Kriegsopfer gab und etwa sechs Millionen Juden systematisch umgebracht wurden. Was dann Hitler und die deutsche Kriegsschuld angeht, möchte ich auf mein im September erschienenes Sachbuch „Der neue West-Ost-Konflikt. Inszenierung einer Krise“ verweisen. Darin gehe ich in zwei längeren Kapiteln auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg ein, darauf daß beide Kriege unter anderem von Briten, Franzosen und US-Finanzeliten provoziert wurden und daß die These von der Alleinschuld Deutschlands nicht stimmt. Das entspricht nicht der gängigen Geschichtsauffassung, und natürlich stehe ich damit bei bestimmten Kreisen in Verdacht des Geschichtsrevisionismus. Aber allmählich werden die Archive geöffnet, und alles, was ich schreibe, läßt sich belegen.

Warum ist es eigentlich so schwer für uns, Deutsche einmal nur als Opfer darzustellen? Die Frage ergibt sich, weil dies bei allen andern, Russen, Polen, Amerikanern etc., immer wieder gemacht wird. Letzteres ist zwar legitim, zeigt aber die Unfähigkeit dazu bei uns Deutschen nicht, daß dem offenbar ein Komplex zugrunde liegt?

Bittner: Die Deutschen sind ebensowenig ein Opfervolk wie sie ein Tätervolk sind. Sie sind, wie fast alle Völker, beides. Auf mich bezogen, war ich als Kind ganz eindeutig ein Opfer der Verhältnisse, was im Roman, der autobiographisch unterlegt ist, thematisiert wird. Ich bin allerdings – um auf meine eigene Geschichte zu kommen, die nur zu Teilen mit der Romangeschichte korrespondiert – weder ein Opfer geblieben noch zum Täter geworden. Und was meine Kinder und Enkelkinder angeht, haben sie nichts mit Verbrechen zu tun, die in der Vergangenheit in deutschem Namen begangen wurden. Diese perpetuierte Selbstbezichtigung, die es bei keinem anderen Volk gibt, sollte aufhören, denn sie bewirkt das Gegenteil dessen, was sie zu bezwecken vorgibt. Der Opportunismus, die Unterwürfigkeit und die Scheinheiligkeit, die die deutsche Politik seit 1945 kennzeichnen, sind schädlich und kontraproduktiv.

Sie verweben die Geschichte der Protagonisten schließlich mit der Ära des Wiederaufbaus im Westen. Geht es dabei auch darum, herkömmliche Bilder zu korrigieren?

Bittner: In dem, was neben der Geschichte, die ich erzähle, an historischen Geschehnissen vorkommt, halte ich mich an die Fakten – auch wenn das in Geschichtsbüchern oft anders dargestellt oder überhaupt nicht behandelt wird. So haben die Alliierten durch Flächenbombardements bis kurz vor Kriegsende eine bedingungslose Kapitulation erzwungen, wodurch Deutschland ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Die westlichen Alliierten haben dann eine Vereinigung der Sowjetischen Besatzungszone mit den drei westlichen Besatzungszonen systematisch verhindert und so die Teilung Restdeutschlands bewirkt, ein Drittel des Reichsgebiets war ja an Polen verloren. Sie haben auch einseitig eine Währungsreform durchgeführt, was weitreichende Konsequenzen hatte. Ich sagte bereits, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Weichen gestellt wurden. Konrad Adenauer, der in geheimen Verhandlungen mit dem französischen Ministerpräsidenten Georges Bidault erreichte, daß die West-Berliner an der ersten Bundestagswahl 1949 nicht teilnehmen durften, wurde mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, zum Bundeskanzler gewählt. Im Gegensatz zu SPD-Chef Kurt Schumacher, der für ein neutrales Deutschland eintrat, war Adenauer als Protegé der Alliierten für die absolute Westbindung. Solche und andere historische Wahrheiten muß man wissen, will man die heutigen politischen Verhältnisse beurteilen. Leider sind die meisten Volksvertreter dazu nicht in der Lage. Hinzu kommt, daß nicht wenige von ihnen, wie auch führende Journalisten, den Netzwerken der USA und der Nato angehören oder ihnen nahestehen.

Heute beanspruchen wir, Toleranz, Meinungsfreiheit und Emanzipation der Bürger erreicht zu haben. Trifft das zu?

Bittner: Das sind große Worte, mit denen ich in dieser hermetischen Begrifflichkeit nicht viel anzufangen weiß. Ich kann darauf nur antworten, daß ich mich emanzipiert habe und ich im Rahmen der Gesetze alles sagen und schreiben kann, was ich will – aber es wird verhindert, daß es viele hören oder lesen. Zu diesem bedeutenden, umfangreichen Thema möchte ich erneut auf mein Buch über den neuen West-Ost-Konflikt verweisen, das ich im Anschluß an meinen Roman veröffentlicht habe. Es ist gerade in die zweite Auflage gegangen, wird jedoch, wie üblich, von den sogenannten Qualitätsmedien boykottiert. Wer hineinschaut, wird wissen, warum das so ist.

Sie haben lange und gern im Ausland gelebt. Warum sind Sie dennoch zurückgekehrt und haben ein Buch über Deutschlands Vergangenheit geschrieben? 

Bittner: So ganz von Deutschland gelöst habe ich mich nie, obwohl ich mich seit 1945, also bereits als Kind, irgendwie heimatlos, entwurzelt fühlte. Vielleicht bin ich deswegen so oft, gern und lange gereist – womöglich auf der Suche nach Heimat. Ich hatte immer schon das Bedürfnis, mir Klarheit über diese Befindlichkeit zu verschaffen. Und das kann ich als Schriftsteller natürlich am besten, wenn ich darüber schreibe, also auch über das Leben und mein Leben in der deutschen Vergangenheit. 

Ihr Buch endet mit den Worten: „Und alles, alles ist gut.“ Meinen Sie das auch bezüglich des in Ihre Geschichte eingewobenen Schicksals Deutschlands?

Bittner: Natürlich nicht. Wie wir heute wissen, war Mitte der fünfziger Jahre überhaupt nicht alles gut. Aber ebenso wie für den Protagonisten Eichendorffs in seinem Buch vom Taugenichts, dem dieser Schlußsatz entlehnt ist, war in diesem Moment für den Jungen in meinem Roman, tatsächlich „alles, alles gut“. 






Dr. Wolfgang Bittner, der Publizist und promovierte Jurist wurde 1941 in Gleiwitz/Oberschlesien geboren und wuchs nach Vertreibung der Familie in einem Barackenlager im ostfriesischen Wittmund auf. Bereits mit seinem vielgelobten Debütroman „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ (1978) erregte er Aufmerksamkeit. Seitdem veröffentlichte der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller zahlreiche weitere Bücher sowie Gastbeiträge, unter anderem in der Frankfurter Rundschau, Zeit oder Neuen Zürcher Zeitung. Im März ist sein neuer Roman erschienen: „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ 

 www.wolfgangbittner.de

Foto: Deutsche Ostvertriebene 1945: „Ich gehe auf bestimmte Themen in einer Weise ein, die von vielen Kritikern nicht goutiert wird. Etwa auf die völkerrechtswidrige, inhumane Vertreibung Millionen Deutscher bei Kriegsende, den Verlust eines Drittels des ehemaligen Deutschen Reiches oder die einseitige Westbindung nach der erzwungenen Kapitulation Deutschlands“

 

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