© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Blau ist die Hoffnung
Neue Balkanroute: Die offiziellen Lager beherbergen nur einen geringen Teil der Durchwanderer in Bosnien
Hinrich Rohbohm

Die Grenze zu Kroatien ist stets in Sichtweite. Parallel zur Korana, dem Fluß, der Bosnien-Herzegowina von Kroatien trennt, schlängelt sich die Straße durch die bergige, einsame Landschaft. Manchmal kommt ein kleiner Ort, der sich durch das weithin sichtbare Minarett der dörflichen Moschee ankündigt. Die Außengrenze der Europäischen Union ist hier nur wenige hundert Metern entfernt.

Wenige Häuser, wenig Zivilisation. Der Weg von Bihac nach Velika Kladuša (Groß Kladuß) ist von einer einsamen, verschlafenen Gegend geprägt, in der gelegentlich die Wunden des Bosnienkrieges der neunziger Jahre sichtbar werden. Dann, wenn ausgebrannte Gebäude in Sicht kommen. Wände mit Einschußlöchern und alte, längst verfallene Baracken.

Doch die Gegend ist in Aufruhr. Immer wieder kommen einem Migrantengruppen auf der Straße entgegen. Iraner, Afghanen, Pakistaner. Ausschließlich junge Männer. Sie tragen Rucksäcke auf ihrem Rücken, an denen sie zumeist zusammengerollte Isomatten und Wolldecken befestigt haben. Andere haben nur Plastiktüten in ihren Händen.

Junge Einwohnerinnen  fühlen sich unsicher

Keine 20 Kilometer von Bihac Richtung Velika Kladuša gen Norden fahrend wird klar: Es sind nicht nur einzelne Gruppen, die sich hier auf die illegale Einreise in die EU vorbereiten. Es sind Massen. Sie bewegen sich nicht in großen Menschenmengen, wie noch 2015. Vielmehr sind sie in unzähligen kleinen Gruppen unterwegs.

Sie haben sich in Bauruinen einquartiert. In verlassenen oder nicht mehr fertiggestellten Häusern. Andere halten sich in den Wäldern auf. Müll am Straßenrand und daneben befindliche kleine Trampelpfade weisen den Weg zu ihnen. Unzählige Migranten kampieren hier. Wie viele genau, weiß niemand.

Einer von ihnen ist Vahid. Der 20 Jahre alte Iraner war in den nächsten größeren Ort gelaufen, um sich Lebensmittel zu besorgen. Er gehört zu den Männern mit den Plastiktüten. „Zehn Kilometer hin und zurück muß ich dafür laufen “, sagt er. Doch wer wie er bereits über 4.000 Kilometer zurückgelegt hat, um nach Deutschland zu gelangen, den halten solche kleinen Unannehmlichkeiten nicht auf.

Mehrfach hatte er bereits versucht, über die sogenannte grüne Grenze in die EU zu gelangen. Bisher ohne Erfolg. Die kroatischen Grenzschützer hatten ihn stets aufgegriffen. „Sie hatten mir mein Mobiltelefon abgenommen und zerstört.“ Viele Migranten erzählen die gleiche Geschichte. Es ist eine Maßnahme, mit der die Kroaten versuchen, den Zuwanderern die Orientierung bei ihrer illegalen Einreise zu nehmen. Doch aufhalten wird das niemanden. Wie viele seid ihr dort in den Wäldern? „Sehr viele“, sagt Vahid. Er zeigt in die Wildnis, malt Kreisbewegungen in die Luft. „Da schlafen überall Leute“, schildert er.

Offiziellen Angaben zufolge sollen es lediglich 6.000 bis 10.000 Migranten sein, die sich in der Grenzregion zwischen Bihac und Velika Kladuša aufhalten. Doch bei den Einheimischen lösen diese Zahlen nur ein ungläubiges Lachen aus. „Allein bei uns in Velika Kladuša sind es ja schon über 10.000“, erzählen die Einwohner des Ortes. Und in Bihaç seien es noch einmal „deutlich mehr“. Allein die Fahrt zwischen diesen beiden Orten macht deutlich, daß die offiziellen Angaben nicht annähernd den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen können.

In Polje, wenige Kilometer vor Velika Kladuša, belagern hunderte Migranten eine Tankstelle, campieren auf den Wiesen rund um das Areal. Hinter der Tankstelle: das neue Migrantencamp der Europäischen Union. Davor ein Metalltor und Wachpersonal. Kein Zutritt.

Einheimische glauben, die Zahlen seien untertrieben

Doch schon ein Blick durch die Metallgitter reicht, um zu sehen, was offensichtlich ist. Die zu einer Reihe aufgestellten Container sind vollkommen überfüllt mit Migranten. Ebenso der Platz davor. Das noch vor einem Jahr hinter einem Sportplatz befindliche Camp ist inzwischen geräumt. Der Andrang war zu groß, die Kapazitäten reichten nicht. Damals war gerade der Stadtpark Velika Kladušas von kampierenden Migranten geräumt worden. Jetzt ist das Bild hier erneut von zahlreichen Zuwanderern geprägt.

Besonders einheimische junge Frauen fühlen sich in ihrem Ort nicht mehr sicher. „Vor einem Jahr war die Hilfsbereitschaft noch sehr groß. Das hat sich inzwischen vollkommen geändert“, sagt die 25 Jahre alte Emira, die in Velika Kladuša lebt und arbeitet. Die Kriminalität habe deutlich zugenommen. „Einige kommen hinter uns her und machen Bemerkungen wie ‘Hey Baby’“, schildern Schülerinnen der JUNGEN FREIHEIT. Auch sie berichten von vermehrtem Diebstahl. „Mir haben sie das Portemonnaie gestohlen“, erzählt eine von ihnen.

Auch in dem bosnischen Grenzort Bihac spitzt sich die Lage dramatisch zu. 90 Prozent der Migranten in Bosnien-Herzegowina befinden sich laut Aussage des Bürgermeisters Šuhret Fazlic derzeit in der 61.000 Einwohner zählenden Stadt. Wie viele es tatsächlich sind, läßt sich auch hier kaum seriös beantworten. Zu verstreut halten sich die Migranten im Stadtkern sowie im Umland auf.

Obwohl bereits 1.500 von ihnen in ein provisorisch errichtetes Lager auf einer ehemaligen Mülldeponie in den fünf Kilometer entfernten Ort Vuçjak gebracht wurden, ist das Stadtbild nach wie vor von Migranten geprägt. Auf den Parkbänken. In verlassenen Häusern. In der Fußgängerzone des Stadtzentrums. Am Ufer der Una, dem durch Bihac fließenden Fluß.

 „Sie sind überall“, klagt eine 20 Jahre alte Bosnierin gegenüber der jungen freiheit. Schon das vergangene Jahr sei für die Stadt „extrem“ gewesen, als Tausende Migranten in und um Bihac herum campierten. Deren Anzahl habe in diesem Sommer noch einmal deutlich zugenommen. So stark, daß auch hier ein von der Stadt eingerichtetes Aufnahmelager inzwischen geschlossen werden mußte, weil die Kapazitäten nicht mehr ausgereicht hatten.

„Inzwischen fühle ich mich hier nicht mehr sicher“, sagt auch diese Frau. Ihre drei neben ihr stehenden Freundinnen pflichten ihr bei. Täglich seien junge Frauen Beleidigungen, sexueller Anmache und unsittlichen Berührungen durch zumeist aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Bangladesch stammenden Zuwanderern ausgesetzt. „Es kommt auch zu Vergewaltigungen, aber aus Scham spricht kaum eine darüber.“

Orte wie Bihac oder Velika Kladuša sind für die Migranten lediglich Durchgangsstationen auf ihrem Weg nach Mitteleuropa, zumeist nach Deutschland. Weil die Balkanroute nach den Interventionen des damaligen österreichischen Außenministers Sebastian Kurz 2017 weitestgehend geschlossen werden konnte, staut sich der Zustrom der Zuwanderer nun an der EU-Außengrenze von Kroatien.

Unter anderem in dem provisorisch errichteten Lager von Vuçjak, das vor wenigen Wochen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten war. Weil die Kapazitäten in Bihac nicht mehr ausreichten, waren 1.500 Migranten kurzerhand umquartiert worden. Ein Video ihres Fußmarsches von Bihac ins fünf Kilometer entfernte Vuçjak fand im Internet rasend schnelle Verbreitung. Und sorgte teilweise für Irritationen, da sie auf einschlägig bekannten verschwörungsliebenden Internetseiten als Migrantenstrom Richtung Deutschland fehlinterpretiert worden waren.

Die jungen Männer haben neue Handys. Aber woher?

Die Maßnahme war jedoch mehr ein Hilferuf der Stadt an die überregionalen Verantwortlichen, sie mit dem Migrationsproblem nicht allein zu lassen. „Die Zustände waren im Sommer einfach unerträglich geworden“, schildern Bewohner von Bihac der jungen freiheit übereinstimmend.

Auch auf der Straße von Bihac nach Vuçjak sind an den Wegesrändern immer wieder Migranten anzutreffen. Wer sich etwas weiter in die Wildnis wagt, stößt auch hier schnell auf Spuren von Müll, Feuerstellen, Zigarettenkippen und Kleidungsstücken. Doch der Streifzug durch die Wälder ist nur mit Vorsicht zu genießen. Bisher nicht beseitigte Landminen aus dem Bosnien-Krieg lauern als lebensgefährliche Bedrohung abseits der Wege. Die Migranten haben von ihnen gehört, fürchten sie mindestens genauso wie die Patrouillen der kroatischen Grenzschützer.

Zwei Kilometer vor dem Camp steht in einem kleinen Bergdorf ein bosnischer Rot-Kreuz-Helfer. Er spricht Deutsch, hatte eine Zeit lang in Krefeld gelebt. Neben ihm stehen zwei Migranten. Der Helfer trägt Handschuhe und Mundschutz. „Eine Vorsichtsmaßnahme“, sagt er. Viele der Migranten hätten Krankheiten. „Geben Sie niemandem von ihnen die Hand, seien Sie vorsichtig“, rät er. Die beiden Migranten deuten auf unseren Wagen, sie wollen offenbar mit ins Camp fahren. Der Rot-Kreuz-Helfer rät wieder ab. „Das kommt bei der Polizei nicht gut“, warnt er.

Der Weg ins Lager schlängelt sich über eine schmale und sandige Schotterpiste den Berg hinab. Meter für Meter wird er enger, die Piste schlammiger, die zu Pfützen gefüllten Schlaglöcher tiefer und häufiger. 50 Meter vom Camp entfernt steht ein Container. Zwei Polizisten treten aus ihm hervor. Ausweiskontrolle. Der Einlaß ist hier kein Problem. „Sie wollen da allein rein?“ fragt einer der beiden skeptisch. Ja. Die beiden beratschlagen sich auf bosnisch. „Gehen Sie nicht zu weit ins Lager, bleiben Sie in unserem Sichtbereich. Sie könnten angegriffen werden“, warnen sie.

Doch es bleibt friedlich. Der Empfang ist von Neugier statt von Aggression geprägt. Ali, ein 24 Jahre alter Pakistaner, kommt heran, reicht die Hand zur Begrüßung. Wie war das noch mit dem Anfassen? Egal. Schnell bildet sich ein Kreis um uns, während er seine Geschichte erzählt. Das ist üblich in deren Kultur.

Ali war 2015 über das türkische Bodrum per Schlauchboot auf die griechische Insel Kos gelangt. Weil das Lager überfüllt war, brachten ihn die Behörden per Fähre nach Athen. „Dort arbeitete ich einige Jahre als Pizzabote und als Lagerarbeiter im Hafen von Piräus.“ Er hoffte auf Dokumente zur Weiterreise. Doch die gab es für ihn nicht. Ali entschloß sich zur illegalen Weiterreise. Über Nordmazedonien und Serbien nach Bosnien. Schnell wird klar: Ali und die anderen haben einen Plan. Einen Plan, wie sie die Grenze zu Kroatien überwinden wollen.

Auch ihnen waren die Handys von kroatischen Grenzschützern schon abgenommen worden. Jetzt haben sie wieder neue. Woher? Keine Antwort. Nur Schweigen und Grinsen.

Das Lager ist offen. Jeder kann kommen und gehen, wie er will. In ein paar Tagen wollen sie den Weg durch die Wildnis wagen. Rüber nach Kroatien. Sie haben einen Ortskundigen, der sie sicher durch die Gegend führen wird. Er wird von ihnen bezahlt. Die Gruppe hat zusammengelegt. Woher sie das Geld dafür haben, wollen sie ebenfalls nicht verraten. „Wenn wir es geschafft haben, geht es weiter nach Italien“, verrät ein 19 Jahre alter Afghane, der sich ebenfalls Ali nennt. Und von dort aus? Wieder dieses Grinsen. „Mal sehen, was dann geht“, sagt Ali nur. Doch über ihr endgültiges Ziel macht keiner von ihnen einen Hehl: „Deutschland“, sagen sie übereinstimmend.