© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Grüße aus St. Petersburg
Auf Knochen gebaut
Claus-M. Wolfschlag

St. Petersburg sei nicht Rußland, sagt Waleria. Hinsichtlich des architektonischen Erscheinungsbildes hätte die Germanistin das nicht erwähnen müssen. Die 1703 von Peter dem Großen gegründete Stadt wirkt auf den ersten Blick untypisch. Der absolutistische Traum war es, eine italienisch anmutende Residenz im kühlen Norden zu errichten, durchzogen mit lieblicher niederländischer Grachten-Atmosphäre.

 Der Anschluß an den Westen durch den kulturellen Nachzügler geschah brachial. Leibeigene wurden in das Sumpfland geschickt, starben wie die Fliegen. Die Stadt sei „auf Knochen gebaut“, lautet ein Sprichwort. Noch beim Bau der Isaakskathedrale, einen der größten sakralen Kuppelbauten der Welt, kamen Mitte des 19. Jahrhunderts unzählige Bauarbeiter ums Leben.

„Büsten von Zar und Stalin stehen in bizarrer Nachbarschaft nebeneinander.“

Der Schrecken ist verdrängt durch die Verehrung von Zar und Baumeister. Gegenwärtiger sind noch die über eine Million Hungertoten der zweieinhalb Jahre dauernden deutschen Blockade im Zweiten Weltkrieg. Doch auch diese Erinnerung verblaßt angesichts heutiger Invasoren in Reisebussen, die, häufig ostasiatischer Herkunft, mit Selfie-Stäben bewaffnet in die Stadt einfallen und die Souvenirstände belagern. Lenin oder gar Gorbatschow findet man dort nicht. Statt dessen liegen oft Büsten oder Kühlschrankmagneten von Zar Nikolaus II. und Josef Stalin in bizarrer Nachbarschaft nebeneinander. Dazwischen allenfalls Wladimir Putin, als Kaffeetasse, als Jahreskalender oder Matrjoschka.

Waleria stammt aus der Stadt, wohnt nahe dem Newski-Prospekt und konnte einige Male ins Ausland reisen. „Ich bin privilegiert. Die meisten Russen leben sehr bescheiden. Nur wenige Prozent können sich Reisen leisten.“ Die meisten pendeln täglich mit der Bahn in die Stadt, leben weit draußen in den Vororten, wo die Barockfassaden längst von Grün umgebenen Hochhäusern Platz gemacht haben. Und die Immobilienpreise steigen rasant. Zwar sind Mieten und Kaufpreise für westliche Verhältnisse noch moderat. Angesichts der russischen Einkommensverhältnisse bleibt aber meist nur der Erwerb eines kleinen Apartments in einem Neubaublock. Zahlt man vor Fertigstellung des Hauses, erhält man Rabatt. Doch das Risiko ist groß. „Mancher Bauunternehmer geht pleite oder setzt sich in den Westen ab. Die Käufer aber haben sich für ihr Leben verschuldet und sitzen dann auf einer Bauruine.“