© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Emmanuel Macrons Rolle rückwärts
Frankreich: Kosten, Kulturfragen, Sozialbetrug und allgemeines Unbehagen – Einwanderung wird zum zentralen Wahlkampfthema / Keine Tabus mehr?
Jürgen Liminski

Das Tabu Einwanderung, inklusive der Kosten- und Kulturproblematik, wird zum Wahlkampfthema in Frankreich. Zunächst für die Kommunalwahlen in fünf Monaten, aber auch für die Präsidentschaftswahlen 2022. Das hat Emmanuel Macron im konservativen Magazin Valeurs actuelles verkündet. Die offiziellen Daten lassen keine andere Wahl: Innerhalb eines Jahres ist die Zahl der Asylanträge um 22,7 Prozent auf 123.625 gestiegen. Davon wurden nur 35.600 anerkannt. Die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen sei mit 255.956 „viel zu hoch“, glaubt die Regierung. Entscheidender dürfte der wachsende Unmut in der Bevölkerung sein: Fast zwei Drittel der Wähler haben laut Umfragen das Gefühl, im eigenen Land nicht mehr zu Hause zu sein. 63 Prozent führen das auf „zu viele Ausländer“ zurück, womit vor allem Muslime gemeint sind. 66 Prozent finden, daß die Ausländer zu wenig Anstrengungen machten sich zu integrieren.

Anfang September machten zwei liberale Abgeordnete einen internen Parlamentsbericht öffentlich, der den Sozialbetrug verdeutlichte. In den Rängen herrschte sichtlich Unruhe, als einige Beispiele genannt wurden. Die Senatorin Nathalie Goulet empörte sich in der Presse: „Es gibt Leute, die 70 Kinder angeben.“ Sie weist auf eklatante Widersprüche hin, etwa daß im nationalen Identifikationsregister (RNIPP) 110 Millionen Personen eingeschrieben seien, wovon 84,2 Millionen als lebend aufgeführt sind. Dabei habe Frankreich offiziell 67 Millionen Einwohner. Das RNIPP zähle auch 3,1 Millionen lebende Personen über hundert Jahre, obwohl das Statistikamt Insee für 2016 gerade einmal 21.000 Personen in diesem hohen Alter angab. Es ist klar, daß hier nicht nur Renten oder Kindergeld für Phantompersonen kassiert wird, sondern auch die lebenden Personen das Sozialsystem massiv in Anspruch nehmen.

Neues Punktesystem und 33.000 Arbeitsvisa

21,1 Millionen Menschen, die im Ausland geboren sind, verfügen über eine französiche Sozialnummer, von ihnen beziehen 11,9 Millionen in irgend­einer Weise soziale Hilfe, obwohl Insee derzeit nur 7,9 Millionen Ausländer zählt, die in Frankreich leben. Der Mißbrauch geht in die Milliarden. Das Gefühl vieler Franzosen, ausgenutzt und dafür auch noch als Rassisten und Islamophobe beschimpft zu werden, hat statistisch nachweisbare Grundlagen. Das hat Macron erkannt. Seine Rolle rückwärts in der Willkommenspolitik ist genau vor diesem Hintergrund zu sehen. Und sie setzt auch daran an: Es wird für Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung und selbst anerkannte Asyleinwanderer keinen sofortigen Anspruch auf medizinische Gratisleistungen mehr geben. Sie müssen nun drei Monate warten, und danach können sie allenfalls sechs Monate Gratisleistungen in Anspruch nehmen. Auch die Wohnsituation soll nun genauer kontrolliert werden. Zum x-ten Mal wurden am Tag nach Verkündigung dieser Maßnahmen vor laufenden Kameras Migrantenlager in Paris geräumt – nach dem Motto: Die tun was. Gleichzeitig wurde verkündet, daß man künftig nach einem Punktesystem Kontingente von Migranten ins Land lassen wolle. Arbeitsministerin Muriel Pénicaud versprach 33.000 Arbeitsvisa.

In dem Maßnahmenbündel befinden sich auch für Deutschland relevante Forderungen. So will die Regierung in Paris eine Liste sicherer Herkunftsländer erstellen. Dazu werden nach französischer Auffassung auch Länder wie Marokko und Staaten Westafrikas gehören, die von den deutschen Grünen und Linken als unsicher eingestuft wurden, was eine Abschiebung verhindert. Dafür hat Paris kein Verständnis mehr. Auch in der Einwanderungsfrage wird es deshalb mit Berlin zu Verstimmungen kommen. Hier ist Macron das nationale Hemd näher als der europäische Rock. Manche Medien bemühen sich noch, das Thema ideologisch zu überhöhen und damit zu verdrängen, aber der Geist ist aus der Flasche. Brüssel und Berlin müssen sich auf Debatten gefaßt machen, in denen Fakten wieder eine stärkere Rolle spielen.

Französisches Statistikamt Insee:

 www.insee.fr

 www.valeursactuelles.com