© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Wolfgang Krischke hat auf interessante Weise die Genese des Begriffs „Volksverräter“ nachgezeichnet. Daß der seinen Ursprung auf der Linken hatte – bei den Jakobinern – ist so wenig verwunderlich wie die Tatsache, daß er mit dem Nationalismus nach rechts wanderte. Allerdings ist die Vorstellung vom „Naziwort“ doch sehr verkürzend; nach dem Zweiten Weltkrieg haben Gewerkschafter an den zur Demontage bestimmten Fabriken Plakate mit Namenslisten angebracht; Überschrift: „Volksverräter am Werk!“

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 „Wenn Leute wie Sarrazin und Lucke, Mendig und de Maizière, ja: auch Meuthen und Höcke, wenn die alle Nazis und Faschisten sind, was waren dann die Nazis, die von 1933 bis 1945 Deutschland regiert und halb Europa verwüstet haben? Das ist die Frage der Fragen, die im Hintergrund wabert. Und die Antwort lautet: eine ziemlich harmlose Truppe. So wird das Dritte Reich bagatellisiert, tatsächlich zu einem ‘Vogelschiß’ runtergestuft.“ (Henryk M. Broder)

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Jedesmal wenn die Flasche Mineralwasser mit dem fünfzackigen roten Stern auf dem Tisch steht, versuche ich in mir Empörung zu wecken, angesichts der Tatsache, daß unter diesem Zeichen 100 Millionen Menschen ermordet wurden – es will mir nicht gelingen.

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Von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt, wurde die Amazonas-Synode von einem Skandal erschüttert. Denn jemand hatte die Statuen der Pachamama – der Muttergottheit der Andenvölker – aus dem Petersdom geholt, wo sie aufgestellt waren, und in den Tiber geworfen. Mittlerweile konnten die Idole von der Polizei geborgen und der Täter festgesetzt werden. Der zeigt sich allerdings uneinsichtig und beharrt darauf, daß er nichts anderes getan habe, als die Geltung des ersten und zweiten Gebotes zu wahren, weshalb die Götzenbilder aus der Kirche zu entfernen waren. Der Papst sieht das offenbar anders, hat sich entschuldigt und schon anläßlich einer seltsam anmutenden Zeremonie in den Gärten des Vatikan deutlich gemacht, daß er offen für einen neuen Synkretismus ist. Allerdings unterscheidet er sich deutlich von jenem älteren, der es der Kirche erlaubte, fremde Glaubensvorstellungen aufzunehmen und sich anzuverwandeln. Die Duldsamkeit ist kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Franziskus scheint entschlossen, jeden Absolutheitsanspruch aufzugeben und um Duldung nachzusuchen, nicht etwa nur im Kreis der Monotheismen oder der Weltreligionen, sondern in der Gemeinschaft all derer, die überhaupt etwa gläubig praktizieren. Man könnte sich an jene letzten Heiden im alten Rom erinnert fühlen, die immer wieder hofften, es werde noch zu einem schiedlich-friedlichen Miteinander kommen, bis zuletzt selbst der Altar der Victoria aus dem Senat entfernt wurde.

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Der kanadische Historiker Christopher Dummitt hat ein Geständnis veröffentlicht. Darin geht es um die Durchsetzung der Gender-Ideologie, zu deren Vorkämpfern er in den letzten Jahrzehnten gehörte. Jetzt gibt Dummitt zu, daß seine Behauptung über die „soziale Konstruktion“ von Männlichkeit und Weiblichkeit faktisch ohne hinreichende empirische Basis entstand. Er sei nur gläubig Foucault gefolgt und habe die Ergebnisse einer kleinen Zahl von Fallstudien extrapoliert und mit anderen Autoren ein Zitierkartell gebildet. Das „Mea culpa“ fällt aber verhalten aus. Dummitt meint, daß der vortreffliche Zweck – der heutige Einfluß der Gender-Ideologie nicht nur auf die Bildungseinrichtungen, sondern auch auf die Gesetzgebung vieler Staaten – seine Mittel rechtfertige.

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Jasper von Altenbockum hat in der  vergangenen Woche einen Leitartikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung verfaßt. Darin kritisiert er die Wahlentscheidungen Ost – zugunsten der AfD – und West – zugunsten der Grünen – nach der Maßgabe, daß die Bürger sich solchermaßen „undankbar“ zeigten und begännen, „die Hand zu beißen, die sie über Jahre und Jahrzehnte gefüttert hat“. Man wird die Worte in den Zentralen von SPD, CDU und CSU mit Wohlwollen vermerken und der FAZ-Leitung vielleicht den Ehrentitel „Haupt- und Staatsanzeiger“ für ihr Blatt antragen.

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Unlängst wurde bekannt, daß in deutschen Kindertagesstätten unhaltbare Zustände herrschen: Knirpse werden eingeschüchtert, angeherrscht, vom Spiel ausgeschlossen und – besonders skandalös – mit Hilfe „drohender Blicke“ zur Räson gebracht. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, daß irgend jemand geprügelt, geohrfeigt, am Ohr durch das Gebäude geführt oder wenigstens am kurzen Seitenhaar in die Höhe gezogen wird (alles übliche Disziplinierungsmittel meiner fernen Anfänge). Daran abzulesen ist, daß der Liberalismus vielleicht nicht gleich dem Mörder die Tür öffnet, aber verläßlich dafür sorgt, Menschen heranzuziehen, die ebenso schwach wie tyrannisch sind.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 29. November in der JF-Ausgabe 49/19.