© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Die Lunte brennt immer noch
Die Ausstellung „Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen“ in Basel illustriert anläßlich seines 175. Geburtstages Facetten des Philosophen
Felix Dirsch

Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Diese Sentenz zählt zu den meistzitierten aus dem Œuvre Nietzsches. Der leidenschaftliche Polemiker lebte in einer Zeit großer weltanschaulicher Konflikte: Der heftige Streit um Demokratie, Sozialismus, Liberalismus, Christentum und Darwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging an seinem Werk nicht spurlos vorüber. Seiner Widersprüchlichkeit ist es geschuldet, daß sich Nietzsche über einen längeren Zeitraum auch als Gewährsmann für die Begründung postmoderner Beliebigkeit eignete.

Nach einer jahrzehntelangen Periode der Entpolitisierung scheinen die genannten Konflikte auch in der westlichen Welt in letzter Zeit wieder zuzunehmen. Welchen Platz die Rezeption Nietzsches, die sich seit dem Tod des Meisters stets veränderte, im neuen Kontext finden wird, ist noch unklar. In einer lesenswerten Studie („‚Auf die Schiffe, ihr Philosophen!‘: Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens“) hat der ausgewiesene Nietzsche-Kenner Christian Niemeyer unlängst das ewige Enfant terrible als „Denker der Zukunft“ herausgestellt.

Jenseits aller Konflikte um die Person des Pastorensohnes und der uferlosen Interpretationen widmet sich die Baseler Ausstellung primär einem für Nietzsche zentralen Ort, an dem er eine Dekade lang als Professor wirkte, bevor er schließlich gesundheitsbedingt pensioniert wurde. Mehrere Geldgeber sorgten für eine relativ üppige Alimentierung. Ein finanziell sorgenfreies Leben als freier Autor war für Nietzsche somit garantiert.

Eine Zeittafel in der Nähe des Eingangs gibt Informationen zum Lebenslauf. Verschiedene Porträtbilder, auch aus jungen Jahren, sind auf einem Infoscreen zu sehen, neben Bildern einiger Familienangehöriger. Es sind etliche Exponate aus der Alltagswelt zu bewundern, außerdem die Erstausgaben einiger längst berühmter Schriften sowie eine markante Gipsmaske. Von Basel aus begannen auch die Besuche Nietzsches in Richard Wagners Domizil in Tribschen, aus denen sich ein äußerst ambivalenter Kontakt entwickelte.

Darüber hinaus werden wichtige Freunde und Weggefährten thematisiert. Zu nennen ist der Präsident des Baseler Erziehungsrates, Wilhelm Vischer-Bilfinger, der den begabten Leipziger Studenten, obwohl diesem nur aufgrund einiger kleinerer Arbeiten der Doktortitel verliehen worden war und erst recht nicht habilitiert war, auf einen Lehrstuhl für Philologie berufen hatte. Zudem wird ein mehrjähriger Brieffreund Nietzsches erwähnt: der Kirchenhistoriker Franz Overbeck, dessen Glaube nicht zuletzt durch Nietzsches fundamentale Kritik des Christentums erschüttert wurde.

Als die vielleicht zentrale Gestalt der „Baseler Welt“ fungierte der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, dessen öffentliche Auftritte den jungen Philologie-Professor begeisterten. Obwohl jener eine Generation älter war, suchte er Kontakt zu dem Kollegen, dessen Gesundheitszustand ihm früh Sorgen bereitete. Hinzuzufügen ist diesen Namen noch der von Heinrich Köselitz, besser unter seinem Pseudonym Peter Gast bekannt, der als Freund sowie Mitarbeiter Nietzsches in die Geistesgeschichte eingegangen ist.

Ikone der Populärkultur

Die Baseler Ausstellung geht darüber hinaus auf verschiedene Aspekte von Nietzsches Werk ein, das anhand von markanten (und leicht zu mißbrauchenden) Stichworten aufgedröselt werden kann: „Wille zur Macht“, „Gott ist tot“, „Übermensch“, „ewige Wiederkehr des Gleichen“ und andere. Gut dargestellt sind die Phasen, die sein Werk prägen: die von Wagner und Schopenhauer beeinflußte Periode; die des freien Geistes; die vom Zarathustra-Enthusiasmus bestimmte; schließlich die des Spätwerks.

Außerdem werden eher unbekanntere Ausschnitte aus Nietzsches Schaffen präsentiert. Dazu zählen etwa seine Jugendlyrik oder auch einzelne Klavierkompositionen. Ein Aspekt, der in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher wahrzunehmen ist, stellt Nietzsches Wirkung als Ikone der Populärkultur heraus. Ein Schokoriegel dient zur Veranschaulichung. Längst gibt es Nietzsche-Tassen und -Shirts. Erfreulich ist, daß der angebliche „Nazi-Philosoph“ zwar nicht verschwiegen, aber doch ins Verhältnis zu anderen Deutungsvarianten gesetzt wird. Schließlich fungierte er auch für Linke als Inspirationsquelle. Daß seine Totenmaske von einem Dilettanten angefertigt wurde, hätte den im Zustand geistiger Umnachtung Verstorbenen wohl nicht gestört.

Angesprochen wird auch die unüberschaubare Verarbeitung von Gedanken des Tausendsassas, die schon vor Nietzsches Tod einsetzte und praktisch in allen Kunst- und Kultursparten ihren Niederschlag gefunden hat. Bereits 1888 hielt Georg Brandes den ersten öffentlichen Vortrag über den damaligen Geheimtip. Von den wichtigen Rezipienten sind Henry van der Velde, Edvard Munch, Rudolf Steiner, Thomas Mann und Richard Strauss anzuführen. 

Auch die aktuelle Ausstellung lehrt, daß es den einen Nietzsche nicht gibt. Er ist stets ein Produkt späterer Sichtweisen – im Guten wie im Schlechten. Die vielleicht wesentlichste Erkenntnis der Schau ist in einem Zitat von Mazzino Montinari, einem der wegweisenden Nietzsche-Forscher des letzten Jahrhunderts, zusammengefaßt: Der Italiener verweist darauf, daß derjenige Nietzsche mißbraucht, der ihn für eigene Zwecke einspannen will und aus diesem Grund Nietzsches Aphorismen aus dem Zusammenhang reißt. Dem authentischen Nietzsche kann man so jedenfalls nicht begegnen. Er läßt sich nur in seiner Ganzheit begreifen.

Die Nietzsche-Ausstellung ist bis zum 22. März 2020 im Historischen Museum Basel in der Barfüsserkirche, Barfüsserplatz 7, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Der Katalog (Christoph Merian Verlag) mit 292 Seiten kostet 39 CHF.

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