© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Klammheimlich verabschiedet
Die SPD entsorgt 1959 Karl Marx auf ihrem Programmparteitag in Bad Godesberg
Konrad Löw

Schon 150 Jahre „Das Kapital“ gab im Jahr 2017 vielen reichlich Anlaß, den „größten Sohn des deutschen Volkes“, Karl Marx, mit Ehrungen zu überhäufen, erst recht im letzten Jahr sein 200. Geburtstag. Doch wer erinnert daran, daß sich vor nunmehr 60 Jahren „seine“ Partei, die SPD, von ihrem Idol verabschiedet hat, als sie am 15. November 1959 weitgehend geräuschlos das Godesberger Programm beschloß? War die Preisgabe dieser Ikone ein Versehen, oder gab es dafür sehr triftige Gründe, die, hätte man sie benannt, das Ansehen der Partei hätten beschädigen können? Warum hat sie die Historische Kommission aufgelöst? 

Der Erste Weltkrieg führte zur Spaltung der SPD. Doch sowohl die Kommunisten als auch die USPD und die Mehrheitssozialdemokraten hielten in ihrer Programmatik an Marx fest. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde jedem neuen SPD-Mitglied das von Marx und Engels verfaßte „Manifest der Kommunistischen Partei“ überreicht. Damals erklärte Kurt Schumacher, der unangefochtene Vorsitzende der SPD, reichlich dialektisch: „Wir haben als Sozialdemokraten gar keine Veranlassung, den Marxismus in Bausch und Bogen zu verdammen und über Bord zu werfen. Einmal wissen ja die Kritiker am Marxismus gar nicht, was Marx ist. Zweitens haben aber die östlichen Entwicklungs- und Entartungsformen des Marxismus gar nichts mit dem zu tun, was die deutsche Sozialdemokratie aus und mit Marx macht.“ Auf dem Berliner Parteitag 1954 nannte das Vorstandsmitglied Willi Eichler Marx gar einen Vorkämpfer der Freiheit. Als dann der Programmentwurf trotzdem jegliche Spuren des Marxismus vermissen ließ, hatte der Vorstand einen schweren Stand. Nicht nur Parteitagsdelegierte protestierten, auch einfache Mitglieder meldeten sich schriftlich zu Wort: „Karl Marx konnte nicht ahnen (...), daß er als Deutscher von der Führung der SPD verlassen würde.“ 

Die Protokolle und sonstigen Unterlagen der vorbereitenden Ausschüsse des Godesberger Parteitages bilden einen Aktenturm von mehr als einem halben Meter. Wider Erwarten finden sich dort keine Schriftstücke, in denen ausdrücklich die Aufnahme von Marx oder des Marxismus in den Programmtext erörtert wird. Und dennoch bestätigen die Akten die Vermutung, daß der Abschied von Marx noch auf andere als die erwähnten Gründe zurückzuführen ist, Gründe, die man nicht zu Protokoll gibt, sondern nur im kleinsten Kreis denen mitteilt, die es wissen müssen. 

Im Protokoll der Sitzung des Unterausschusses „Grundsatzfragen der Programmkommission“ vom 31. Oktober 1955 fragt Gerhard Weisser die sieben anderen anwesenden Mitglieder: „Wie kommt es in unserer Zeit zu totalitären Gesellschaftstypen? Wann stirbt ein solches System? Diese Fragen sollten wir einmal gründlich behandeln. Seid ihr ganz sicher, daß wir mit der These vom ‘vergewaltigten Marx’ Recht haben?“ Weisser fährt fort: „Auch darüber sollten wir einmal im engsten Kreis sprechen.“ 

Was kam „im engsten Kreis“ alles Marx betreffend zur Sprache? Darüber gibt es verständlicherweise keine Aufzeichnungen, aber geradezu zwingende Vermutungen: Weisser, ein guter Kenner der Schriften von Marx und Engels, kannte wohl auch alle wichtigen Publikationen über sie, ganz sicher zumindest die zeitgenössischen aus der Feder angesehener sozialistischer Mitstreiter. Zu ihnen zählten Roman Rosdolsky, Edmund Silberner und Siegfried Landshut. Alle drei haben in ihren Marxismusstudien Tatsachen aufgezeigt, die die schlimmsten Erinnerungen an die NS-Ideologie und ihre Folgen wachrufen.

Marx’ Antisemitismus war den Genossen zu peinlich

Schon in seiner Dissertation aus dem Jahre 1929 befaßte sich Rosdolsky mit der Einstellung von Marx und Engels zu den slawischen Völkern. Er zitiert aus der Neuen Rheinischen Zeitung, deren Chefredakteur Marx gewesen ist. Der Text ist gespickt voll mit Zitaten aus diesem Blatt, wie „Kampf, ‘unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod’ mit dem revolutionsverräterischen Slawentum: Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution.“ Und an anderer Stelle: „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“ Wer Bescheid weiß, denkt bei derlei Radikalismen an Goebbels‘ Tagebuchaufzeichnung: „Aus alledem hat der Führer die Konsequenz gezogen, daß das Kleinstaatengerümpel, das heute noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muß.“

„Als besonders befremdend muß uns heute die Einstellung der Neuen Rheinischen Zeitung den Juden gegenüber erscheinen“ – bemerkt Rosdolsky am Beginn seiner Betrachtungen über „Die Neue Rheinische Zeitung und die Juden“. Und Edmund Silberner, selbst Jude, stellt nüchtern fest: Es ist sinnlos, mit jemandem zu argumentieren, der Wunschträume über nachweisbare Tatsachen stellt. Vorausgesetzt, daß man mit Antisemitismus Feindseligkeit gegen Juden meint und keine willkürliche Auswahl der Marxschen Aussprüche über die Juden trifft (...), kann man nicht nur, sondern muß man Marx geradezu als ausgesprochenen Antisemiten bezeichnen.“ Für so manche Juden hat Hitler 1943 Marxens Todesurteil über die Juden des Jahres 1843, gemeint ist die Schrift „Zur Judenfrage“, vollstreckt. In ihm stehen Sätze wie: „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß. Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“

Andere Teilnehmer der Sitzung pflichteten Weisser, der Marx zu den Wegbereitern des Totalitarismus zählt, ausdrücklich bei, so Fritz Borinski: „Wenn wir die Wirkung von Marx gerade heute im Totalitarismus sehen, scheint es mir richtig zu sein, was Weisser sagt. (...) Das Menschenbild von Marx ist ein für unsere heutige Zeiterfahrung vereinfachtes und verharmlostes. Gewisse Punkte wurden dabei verabsolutiert und von daher Ansatz zum Totalitarismus.“

Doch warum so vorsichtig? Manifestiert sich das totalitäre Denken nicht schon im „Manifest der Kommunistischen Partei“ auf schauerliche Weise? Man muß nur die gut zwanzig Seiten bis zum Ende lesen, wo es heißt: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ Stalin läßt grüßen.

Marx war ein Verächter der slawischen Völker, ein radikaler Antisemit, ein Vorkämpfer des Totalitarismus. Diese Merkmale erinnern an einen anderen „großen“ deutschen Führer, dessen frappierende ideologische Nähe leicht zu einer schweren Belastung hätte werden können.





Godesberger Programm 1959

Auf einem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959 hat die SPD programmatische Weichen gestellt, die viele später als Beginn eines Wandels von einer sozialistischen Arbeiterpartei zur Volkspartei deuteten. Deren Erfolg dokumentierte zehn Jahre später die erste sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt. Neben einer Abkehr vom Marxismus und der klaren Abgrenzung zu den Kommunisten in der DDR bedeutete das neue Parteiprogramm auch eine Hinwendung von der Plan- zur Marktwirtschaft; „soviel Markt wie möglich, soviel Planung wie nötig“, formulierte Karl Schiller dazu. Zudem sei der Sozialismus nicht mehr das Endziel historischer Entwicklungen, sondern die dauernde Aufgabe, „Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen.