© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Der Kölner Dom in Orange
Inklusive Massenvertreibung der Deutschen: Den Haags Gebietsforderungen nach 1945
Erich Körner-Lakatos

Im Jahr 1945 meldeten nicht nur Deutschlands östliche Nachbarn Gebietsansprüche an, auch im Süden wurden Forderungen Österreichs auf das Berchtesgadener Land laut. Der Rupertiwinkel westlich von Salzburg war auf dem Wiener Kongreß 1815 von Österreichs Kanzler Metternich gegenüber Bayern leichtfertig verspielt worden. Nun hätte Wien diese Region gern zurückerworben. 

Wenig bekannt ist der Appetit der späteren Benelux-Staaten, wobei der Landhunger der Niederlande hervorsticht. Etwas übermütig gebärdete sich der Zwergstaat Luxemburg (JF 20/19), während Belgien zurückhaltend war: Brüssel gelüstete es nach deutschem Boden östlich von Eupen und Malmedy, freilich nur in bescheidenem Umfang – einige Teile von Dörfern und Wäldern. Infolge des belgisch-deutschen Grenzvertrags von 1956 verbleiben später aber beinahe alle beanspruchten Gebiete bei der Bundesrepublik.

Von geradezu atemberaubender Dimension waren dagegen die niederländischen Gebietsansprüche gegenüber dem geschlagenen Deutschen Reich. Den Haag verlangte einen breiten, sich von Norden bis Süden durchziehenden Streifen deutschen Territoriums. Federführend bei diesen Planungen war Frits Bakker-Schut. Der 1903 in Rotterdam geborene Bauingenieur war geradezu besessen vom Plan eines Groß-Niederländischen Staates, der einen Großteil des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sowie den Nordwesten des späteren Niedersachsens umfassen sollte.

Enteignung und Vertreibung der deutschen Optanten

Bakker-Schut steht im Herbst 1945 einer Kommission vor, die in einigen Untergruppen darüber nachdenkt, was die Niederlande dem Deutschen Reich so alles wegnehmen könnten, wo neue strategische Grenzen zu ziehen sind. Auch Bodenschätze wie Kohle, Eisenerz, Erdöl spielen dabei eine Rolle, dann große Industriebetriebe sowie nicht zuletzt landwirtschaftliche Nutzflächen. Der Schlußbericht ergeht Ende 1945 an Innenminister Eelco Nicolaas van Kleffens.  

Bakker-Schut legt drei Varianten vor. Der favorisierte Plan A, sozusagen die Maximalvariante, umfaßt alles Land entlang der gedachten Linie von Wilhelmshaven, dann südlich entlang der Weser, Osnabrück, Hamm, Wesel, weiter dem Rhein folgend bis in die Nähe Kölns, anschließend westwärts bis Aachen. Die Städte Oldenburg, Osnabrück, Münster, Aachen und Köln sollten dadurch holländisch werden. Als neue Bezeichnungen hatte die Kommission sich bereits neue Namen wie Keulen (Köln), Osnabrugge, Aken (Aachen), Monniken-Glaadbeek, Munster usw. ausgedacht.

Plan B ist eine flächenmäßig geringfügig abgespeckte Variante von A: Die dichtbevölkerte Gegend um die Städte Köln, Mönchen-Gladbach, Bergheim und Neuss würde danach deutsch bleiben. Als Minimalforderung präsentiert Bakker-Schut noch den Plan C, sozusagen das, worauf seiner Meinung nach die Niederlande in jedem Fall zugreifen sollten. Es handelt sich um einen breiten Streifen entlang der niederländischen Ostgrenze inklusive der Ostfriesischen Inseln, dem Jeverland, ganz Ostfriesland, dem Emsland und der Grafschaft Bent-heim, westlichen Teilen Westfalens bis zu einigen Kreisen am Niederrhein.  

Befürworter der Annexionspläne waren vor allem die betagte Königin Wilhelmina (die Calvinistin aus dem Hause Oranien-Nassau herrschte seit 1890) und die Katholische Volkspartei, wobei sich letztere durch den Gebietsgewinn der deutschen Bistümer Aachen und Münster eine Stärkung des Katholizismus versprach. Ähnliches galt für das Erzbistum Köln. Genau deshalb waren die Calvinisten-Parteien, aber auch die Liberalen eher zurückhaltend, was eine größere Annexion anging. Einzig die Sozialisten lehnten jegliche Gebietsforderungen grundsätzlich ab.

Wie sollte sich das Schicksal der deutschen Bewohner der in Augenschein genommenen Territorien gestalten? Nach Veröffentlichungen des Niederländischen Komitees für Gebietserweiterungen, zum Beispiel in der Broschüre „Oostland – Ons Land“ (deutsch Ostland – unser Land) waren Ausweisungen, konkret: die massenhafte Vertreibung der Deutschen geplant. Davon erfaßt wären alle Einwohner größerer Gemeinden (über 2.500 Bewohner) gewesen, dazu alle „NS-Belasteten“ sowie diejenigen, die erst nach 1933 dort ihren Wohnsitz gemeldet hatten. Der Rest sollte optieren können, Grundvoraussetzung für den Verbleib in den neuen niederländischen Provinzen sollte die Beherrschung der plattdeutschen Sprache sein, und die niederländischen Optanten durften keine nahen Verwandten im früheren Deutschen Reich haben. Wer für Deutschland optiert hätte, sollte entschädigungslos enteignet und sofort über die neue Grenze nach Osten vertrieben werden.

Die überaus harten Maßnahmen waren in der Form überraschend, da – anders als zum Beispiel in Polen, wo bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts chauvinistische Pläne reiften, infolge des „Westgedankens“ alte slawische Erde im Osten Deutschlands einzusammeln – ähnliche Bestrebungen in den Niederlanden unbekannt waren. Der Krieg 1940 war kurz und wurde bis auf die Bombardierung Rotterdams kaum unerbittlich geführt. Zwischen 1940 und 1945 arbeiteten sogar massenhaft Niederländer mit der deutschen Besatzungsmacht unter Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart zusammen. Ab Sommer 1940, in den ersten Monaten der deutschen Okkupation, wuchs die Mitgliederzahl bei Anton Musserts Nationalsozialistischer Bewegung NSB auf etwa 100.000, bei knapp neun Millionen Einwohnern! Junge Männer meldeten sich in stattlicher Anzahl, man schätzt bis zu 25.000 Mann, als Freiwillige für die Waffen-SS, namentlich für die Division Nederland. 

Westalliierte lehnen Den Haags Annexionspläne ab

Zum Gebaren der Niederländer im Zweiten Weltkrieg und danach schreibt Der Spiegel (9/1994): „Die Holländer sind ganz gewiß keine schlimmeren Rassisten als andere Europäer. Sie haben, weil sie Kaufleute sind, ihr Menschenbild stets nur den jeweils vorherrschenden geschäftlichen Rahmenbedingungen angepaßt. So wie in den dreißiger Jahren, als sie scharfe Einwanderungsbestimmungen gegen deutsche Juden verhängten, um sich Erleichterung von dem erwarteten Druck von seiten der Hitleristen zu verschaffen. Das ist es wohl auch, was die Holländer dem dominanten Nachbarn im Osten so übelnehmen: daß sie sich von ihm so gründlich kompromittieren ließen. Von allen Völkern, die von der großdeutschen Dampfwalze im Zweiten Weltkrieg niedergewalzt wurden, haben die Niederländer die größten Probleme, sich pauschal als Opfer zu fühlen. Nach Kriegsende waren 450.000 Kollaborateure registriert, die sich im Umgang mit den Besatzern schmutzige Finger geholt hatten. Weil die Polizei den deutschen Judenmördern so wirkungsvoll zulieferte, konstatierte Adolf Eichmann zufrieden: In Holland ging alles wie am Schnürchen. Nach dem Krieg gab ein SD-Beamter namens Willy Lages zu Protokoll, die Jagd auf die Juden wäre ohne die holländische Unterstützung nur zu zehn Prozent durchführbar gewesen.“

Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen richteten sich viele Niederländer in der Nachkriegszeit in der moralisch überlegenen Position des einstigen Opfers ein. In der Selbstwahrnehmung kontrastieren die liberalen, toleranten und fortschrittlichen Niederlande mit dem steifen, schroffen Land der „Moffen“, wie der Volksmund die Deutschen damals abschätzig nennt. Nach 1990 zeigt die Fassade der niederländischen Selbstgerechtigkeit aber auch größere Risse. Medien unserer Nachbarn problematisierten immer offener die massenhafte Kollaboration mit den Deutschen. Warum konnten so viel mehr Juden aus den Niederlanden deportiert werden als aus dem benachbarten Belgien? Warum war der Anteil der Holländer, die freiwillig zur SS gingen, weit höher als anderswo? 

Wie auch im Falle Luxemburgs lehnen die Westalliierten größere Annexionen ab, da dadurch das in Deutschland durch die Vertreibung aus dem Osten virulente Flüchtlingsproblem unnötig verschärft würde. Anfang 1947 versuchen die Niederländer, die britischen Besatzer mit deutlich bescheideneren Forderungen zu territorialen Zugeständnisssen zu bewegen. Man beschränkt sich auf 1.840 Quadratkilometer und 160.000 Bewohner, nämlich die Insel Borkum, die sogenannte Niedergrafschaft um Bentheim (dort befinden sich Erdölfelder) sowie auf einen schmalen Grenzstreifen. Aber auch daraus wird nichts, weil auf der Londoner Deutschland-Konferenz im März 1949 nur marginale Änderungen des Grenzverlaufs beschlossen werden. 

Immerhin erhält Den Haag die Grenzgemeinde Elten am Niederrhein, darüber hinaus ein paar Weiler und Wälder. Die Besetzung durch die Niederländer beginnt dort am Sonntag, dem 23. April 1949. Die spätere Bundesrepublik Deutschland – und das junge Bundesland Nordrhein-Westfalen – zählt auf einmal 3.500 Menschen und knapp 20 Quadratkilometer Land weniger. Land und Leute werden am Mittag im Eltener Rathaus mit einem Federstrich den Niederlanden einverleibt. Bis zur Rückkehr in den bundesdeutschen Staatsverband bleiben die Menschen in und um Elten weiterhin Deutsche, bekommen aber einen holländischen Paß und müssen sich ausweisen, wenn sie über den neuen Grenzübergang nach Deutschland wollen. Sie haben kein Wahlrecht, weder hüben noch drüben. Selbiges in Selfkant, der einst westlichsten Ortschaft des Deutschen Reiches nördlich von Aachen. 

Die Okkupation dauert fast vierzehn Jahre. Durch den Holland-Vertrag vom 1. August 1963 kommen fast alle Gebiete zurück zur Bundesrepublik Deutschland.