© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Das neue „fahrende Volk“
Zu Besuch im „Tiny House“: Der Trend zum minimalistischen Wohnen birgt Herausforderungen
Bernd Rademacher

Das winzige Häuslein steht an einer Flußbiegung, die malerischer kaum sein könnte. Herbstlicher Nebel liegt über dem Ufer. Nur wenige Schritte davon steht ein bemerkenswertes Holzhaus, eher eine auf einen Anhänger montierte Hütte, aufgebockt auf gestapelten Gehwegplatten. Angestrichen ist es in typisch skandinavischem Ochsenblutrot, vor den Fenstern hängen Vorhänge im Laura-Asley-Countrystil.

Das „Tiny House“ („kleines Haus“) gehört Brigitte, und sie bittet herein. Auf den ersten Blick wirkt die Behausung in kompakter Modulbauweise innen überraschend geräumig. Die Ausstattung ist passabel: eine Küchenzeile mit Spüle, ausreichend Steckdosen, ein Bad mit Dusche und WC. Für behagliche Wärme sorgt ein Gasofen in Kaminoptik, sogar mit Flammenspiel hinter der Scheibe. Die Schlafkammer hat allerdings kaum mehr Fläche als die Matratze.

Die Grundwohnfläche beträgt etwa 35 Quadratmeter, wirkt aber durch die intelligente Aufteilung und viel versteckten Stauraum deutlich größer. Die Holzbauweise schafft ein angenehmes Raumklima. Die relativ dünne Wärmedämmung der Wände reguliert die aktuellen Temperaturen spielend, im Hochsommer stelle ich mir das Häuschen allerdings als Brutkasten vor.

Vor eineinhalb Jahren sah Brigitte in einer Zeitschrift zufällig einen Beitrag über das „Tiny House“ als Wohntrend für flexible Individualisten. Kurzentschlossen kündigte sie ihre gemütliche Dreizimmerwohnung mit Balkon und steckte ihre Ersparnisse in das fahrbare und erschwingliche Eigenheim.

Ein Anbieter war im Internet schnell gefunden: Der Betrieb aus Süddeutschland baut die Mini-Eigenheime in Serie. Bei der Gestaltung des Grundrisses konnte Brigitte ihre eigenen Vorstellungen einbringen. Nach der Anzahlung begann die Produktion. Wie im Handwerk nicht unüblich, kam es dabei zu nervenzehrenden Verzögerungen.

Was ist mit der Wasserversorgung?

Unterdessen hatte Brigitte allerhand zu tun: die alte Wohnung auflösen, überschüssige Möbel verkaufen – aber vor allem: einen neuen Wohnort finden. Das ist nicht so leicht wie manch einer denken mag, denn es ist nicht erlaubt, ein „Tiny House“ zu parken, wo es einem gerade paßt. Zudem muß die Frage von Strom, Wasser und Abwasser geklärt werden. Wie lautet die postalische Anschrift und Meldeadresse des neuen Zuhauses? Wie läuft die Müllentsorgung?

Sie hatte Glück: Die Eigner eines Dauercampingplatzes boten ihr einen Stellplatz mit kleinem Grundstück an. Dort gibt es Strom und Abwasserleitungen. Das Brauchwasser allerdings kommt aus einem Ein-Kubikmeter-Tank, der neben dem Haus steht. Was, wenn der sich bei starkem Frost in einen Eisblock verwandelt? Ihre Post läßt sie an Freunde in der Stadt schicken, die eine „richtige“ Adresse haben.

Ob die Umgebung eines Dauercampingplatzes mit Schotterwegen, Buchsbaumhecken und Fußballvereinsfahnen auf der Parzelle der Vorstellung vom Idyll im Grünen entspricht, sei dahingestellt. Ob es im Sommer wirklich ruhiger ist als in der Stadt, wenn die anderen Camper am Wochenende grillen und feiern, auch. Sicher ist: Als Single oder junges Paar mag das Wohnmodell angehen, spätestens bei der Familiengründung ist das „Tiny House“ vom Tisch.

Eine Mär ist, daß das Mikroheim wirklich mobil sei: Die Vorstellung, es an die Anhängerkupplung des eigenen Pkw zu hängen und mal eben den Wohnort zu wechseln, ist Illusion. Brigittes Modell besteht aus zwei Hälften, die einzeln angeliefert und miteinander verbunden wurden. Wollte man das Haus transportieren, müßte man die Hälften wieder trennen und mit Brettern abdichten. Zur Fahrt wäre ein Traktor, mindestens aber ein sehr starker Geländewagen nötig.

Nebenan lebt ein junges Studentenpaar, das im gleichen Haustyp wohnt, aber die beiden Module in L-Form aufgestellt und im offenen Winkel eine Terrasse von circa zwei mal drei Metern installiert hat. Diese clevere Lösung bietet etwas mehr Komfort und das Gefühl von mehr Größe.

Der Kaffee ist fertig, wir genießen ihn auf der Bank vor dem Haus. Bei Regenwetter kann einem sicher schnell die – ohnehin ziemlich niedrige – Decke auf den Kopf fallen. Brigitte hat den Raum unter dem Wagen mit engmaschigem Draht verhauen, weil er schon zum Unterschlupf für Ratten und Marder wurde, erzählt sie. Sie vermißt ihre alte Wohnung nicht, sagt sie, aber so ganz glaube ich ihr das nicht.