© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Gekommen, um zu bleiben
Abgelehnte Asylbewerber: Noch immer befinden sich Zehntausende Personen in Deutschland, die eigentlich abgeschoben werden müßten
Björn Harms

In der sächsischen Kleinstadt Hainichen sorgt derzeit der sexuelle Übergriff eines 30jährigen Marokkaners für Aufregung. Am 21. September soll der Mann, dessen Asylantrag bereits 2016 abgelehnt worden war, in einem Park eine 19jährige überfallen und begrapscht haben. Die junge Frau konnte sich wehren, der Täter flüchtete und wurde wenig später von der Polizei aufgegriffen. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz aber ließ den Mann wieder laufen. Bereits zwei Tage später wurde er erneut festgenommen. Seitdem sitzt er in Haft.

Jetzt platzte dem örtlichen SPD-Bürgermeister der Kragen: „Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, gehört der Mensch unverzüglich in seine Heimat abgeschoben“, sagte Dieter Greysinger am Samstag der Bild-Zeitung. „Wenn er dann auch noch Straftaten verübt, muß er sofort in Abschiebehaft gesteckt werden und dann raus.“ Ein frommer Wunsch – doch in vielen Fällen steht eine Abschiebung überhaupt nicht zur Debatte. Vorfälle wie der in Hainichen gelten als beispielhaft für das Versagen des deutschen Asylsystems. Der illegale Aufenthalt des Marokkaners ist kein Einzelfall – noch immer leben Zehntausende Personen in Deutschland, die eigentlich gar nicht hier sein dürften.

Einen konkreten Einblick in die bundesweiten Zahlen liefert die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei (Drucksache 19/13393). Darin heißt es: „Zum 30. Juni 2019 waren im Ausländerzentralregister (AZR) 679.216 Personen mit einem abgelehnten Asylantrag erfaßt.“ Trotzdem haben 38,1 Porzent von ihnen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Bei 38,4 Prozent ist diese befristet. Für 23,5 Prozent der abgelehnten Asylbewerber heißt es in dem Dokument: „Sonstiges (zum Beispiel Duldung, kein Status gespeichert)“. 

Doch sind unter den Abgelehnten nicht nur Asylbewerber, die erst kürzlich nach Deutschland einreisten. Tatsächlich lebt der Großteil von ihnen (405.001 Personen) bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland.

Großteil lebt schon über sechs Jahre in Deutschland 

Mitunter kann es im Asyl-Zahlen-dschungel reichlich unübersichtlich werden: Das AZR weist in seiner Statistik 233.703 Personen aus, die derzeit in Deutschland registriert sind und deren Asylanträge im Zeitraum von 2015 bis zum 30. Juni 2019 negativ beschieden wurden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) fällte laut eigener Daten seit 2015 bis zum 30. Juni 2019 insgesamt 604.483 negative Asyl-entscheidungen. Im selben Zeitraum spricht das Bundesinnenministerium von rund 105.000 Personen, die abgeschoben worden seien. Zudem hätten rund 130.000 Personen das Land freiwillig verlassen (JF 42/19).

Zieht man also die Zahlen des Innenressorts von denen des Bamfs ab, ergibt sich eine Zahl von 369.483 nicht ausgereisten bzw. nicht abgeschobenen Personen, deren Asylanträge abgelehnt wurden und die sich weiterhin in Deutschland befinden könnten – wobei unter den Abgeschobenen und freiwillig Ausgereisten sicherlich auch Personen waren, deren Asylantrag vor 2015 abgelehnt wurde. Die tatsächliche Zahl der sich hier illegal Aufhaltenden könnte also noch höher liegen. Setzt man nun diese Personenzahl mit der Zahl aus dem AZR ins Verhältnis (233.703 zu 369.483), ergibt sich eine Lücke von knapp 140.000. Wohin diese Personen in der Statistik verschwunden sind, ist unklar.

Das Bamf teilt auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT lediglich mit: „Die Zahlen kann man nicht miteinander vergleichen.“ Im Fall des AZR gehe es um rechtskräftig abgeschlossene Verfahren, beim Bamf lediglich um die „ersten Entscheidungen ohne Gerichtsprozeß“. Daß hieraus trotzdem solch eine statistische Lücke entstehen kann, bleibt fragwürdig.

Auch an anderer Stelle setzen sich die Unklarheiten fort: Zum Stichtag 30. Juni waren in der Bundesrepublik 212.782 Ausländer zur Festnahme ausgeschrieben. Bei einem Großteil von ihnen weiß der Staat überhaupt nicht, wie lange die betroffenen Personen schon in Deutschland leben: „Bei 119.468 Personen ist eine Aufenthaltsdauer nicht ermittelbar“, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. Ähnlich sieht es bei Zuwanderern aus, die zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben sind. „5.038 Personen lebten seit mehr als sechs Jahren in Deutschland, 86.572 Personen sechs Jahre oder weniger, bei 85.396 Personen ist eine Aufenthaltsdauer nicht ermittelbar.“ Der Staat weiß also weder, wo die Personen sich aufhalten, noch wie lange sie überhaupt schon im Land sind.

Ausreisepflichtig sind laut Angaben des AZR immerhin 246.737 Personen. Allein 72.370 von ihnen leben in Nord-rhein-Westfalen, auf den Plätzen 2 und 3 folgen die Bundesländer Bayern (30.650) und Baden-Württemberg (25.748). Jene Bundesländer verzeichnen gleichzeitig auch die meisten ausreisepflichtigen Personen mit einer Duldung. In NRW sind dies 57.929 Personen, in Baden-Württemberg 21.710 und in Bayern 20.873.

Die Gründe für Duldungen – bundesweit erhielten laut dem Dokument bis zum Stichtag 30. Juni rund 190.000 ausreisepflichtige Personen einen solchen Aufenthaltstitel – sind breit gefächert. Bei 80.624 Ausländern sind schlicht keine Reisedokumente auffindbar. Besonders in Sachsen scheint das ein Problem zu sein. Das Bundesland ist mit 20.916 Duldungen aus diesem Grund mit weitem Abstand auf dem ersten Platz, dahinter folgen Rheinland-Pfalz (10.577) und Baden-Württemberg (10.433).

Geduldet, weil Angehöriger keine Reisedokumente hat

Die fehlenden Dokumente zur Ausreise können sich auch auf das nähere Umfeld auswirken – im positiven Sinne für die Bekannten: 11.357 Personen erhielten eine Duldung, wegen „familiären Bindungen zu Duldungsinhabern, die eine Duldung wegen fehlender Reisedokumente oder medizinischer Gründe besitzen“. Bei knapp 74.790 Personen war eine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich,  hier verzeichnet die Statistik eine „Duldung aus sonstigen Gründen“. 

Nur ein kleiner Teil der Ausreisepflichtigen (12.733) erhält eine Duldung aus „humanitären oder persönlichen Gründen“. Gemeint sind damit etwa die Beendigung der Schule oder der Ausbildung sowie die Pflege kranker Familienangehöriger. 

Gleichzeitig stagnieren auch in diesem Jahr die vollzogenen Abschiebungen. Die meisten wurden in den Monaten April (2.043) und Mai (2.000) registriert. Für September gibt das Innenministerium 1.910 Abschiebungen an. Schätzungen gehen davon aus, daß die Gesamtzahl in diesem Jahr auf einem ähnlichen Niveau wie 2018 liegen wird, als 23.617 Personen abgeschoben wurden.

Unter Einbeziehung dieser Abschiebezahlen wird also deutlich: Von einer „nationalen Kraftanstregung“, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor zwei Jahren für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber angekündigt hatte, ist die Bundesrepublik meilenweit entfernt.

(Grafik siehe PDF)