© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

„Müssen Wege finden, um uns zu nehmen, was uns zusteht“
Proteste im Libanon: Die nach Konfessionen besetzten Regierungsämter werden von wenigen Familien dominiert / Eine Steuer brachte das Faß zum Überlaufen
Marc Zoellner

Der Libanon ist ein einziges Flaggenmeer: Seit geschlagenen fünf Wochen schon strömen die Menschen in Beirut, in Baalbek und in Tripoli zu Hunderttausenden auf die Straße, um in vielfältigen Protestaktionen den Rücktritt der Regierung um Präsident Michel Aoun sowie Premier Saad Hariri zu fordern. Es sind Jugendliche und junge Erwachsene, Schüler, Studenten und Arbeiter, die sich unter dem rotweißroten Zedernbanner der kleinen Nahostrepublik versammeln – und deren Forderungen für libanesische Verhältnisse von Tag zu Tag radikaler anmuten.

In Leitartikeln sprechen internationale Kommentatoren in Anlehnung an die Unruhen von 2011, die in der Nachbarschaft vier autoritäre arabische Regierungen zum Sturz gebracht hatten, bereits von einem „zweiten arabischen Frühling“. Daß es bislang nicht zu einer Eskalation der Gewalt zwischen Regierung und Demonstranten gekommen ist, gleicht daher einem kleinen Wunder.

Dabei ist der Anlaß der Proteste, die seit dem 17. Oktober den Libanon in Atem halten, ein durchaus kurioser: Um die horrende Staatsverschuldung des Landes einzudämmen, hatte Hariris Regierung dem Parlament ein ganzes Bündel neuer Steuern zur Abstimmung vorgelegt. Eine davon betraf die Smartphoneanwendung „WhatsApp“, die im Libanon gerade von jungen Menschen gern genutzt wird, da die libanesischen Telefongesellschaften als die teuersten der gesamten Nahostregion gelten. Binnen vier Tagen waren die Massen organisiert; Autobahnen wurden von Protestzügen lahmgelegt, im Zentrum der Hauptstadt Beirut ruhte das tägliche Leben, und unzählige Bürger bildeten eine geschlossene Menschenkette quer durch das Land. Bereits jetzt gelten die Proteste als größte in der Geschichte des Libanon. Und ein Ende der Unruhen ist längst nicht mehr in Sicht.

Parlamentspräsident besitzt 400 Millionen US-Dollar

„Wir sind hier bereits seit 31 Tagen, doch noch immer hat man uns nicht angehört“, beklagt der 23jährige Student Tarek Hattoum im Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera. „Langsam wird uns klar, daß sie uns nicht geben werden, was wir verlangen, und daß wir bessere Wege finden müssen, um uns zu nehmen, was uns zusteht.“ Denn längst geht es nicht mehr nur um die bereits in der zweiten Protestwoche zurückgezogene „WhatsApp“-Steuer. Die Regierung selbst ist Ziel des Volkszorns – und mit ihr die ungeschriebene verfassungsmäßige Ordnung des Libanon, die sämtliche Machtverhältnisse nach religiösem Proporz aufteilt.

Zu je einem Drittel teilt sich die Bevölkerung des Landes in sunnitische, schiitische sowie christliche (maronitische und orthodoxe) Glaubensgemeinden auf. Bereits im Spätherbst 1943 und wiederholt nach dem blutigen, von 1975 bis 1990 wütenden Bürgerkrieg wurde ein Konsens zur Stabilisierung der Gesellschaft vereinbart, nachdem der Präsident stets ein Christ, Premierminister und Parlamentspräsident jeweils Sunnit bzw. Schiit zu sein haben. Auch im Parlament selbst sind den religiösen Gruppierungen spezifische Sitzplatzanteile reserviert.

Was nach der Unabhängigkeit der einstigen französischen Kolonie als Garant für eine friedliche Entwicklung mit beeindruckendem Wirtschaftswachstum sorgte – noch in den 1980ern galt Beirut mit seinen prosperierenden Einkaufsmeilen und glitzernden Spielcasinos als Paris des Ostens –, wird vom Gros der Libanesen heutzutage als Stützpfeiler eines der korruptesten Regierungssysteme der Welt gewertet. Seit Jahrzehnten wird die libanesische Parteienlandschaft von stets den gleichen Familien beherrscht, die wiederum ihre eigenen Familienmitglieder sowie verdiente Loyalisten in gehobene Staatspositionen hieven. 

Das reichste Prozent des Volkes bezieht Schätzungen zufolge mittlerweile 54 Prozent des libanesischen Gesamteinkommens. Allein das Privatvermögen des seit 27 Jahren fungierenden Parlamentspräsidenten Nabih Berri, der zeitgleich Vorsitzender der schiitischen Amal-Bewegung ist, wird mit umgerechnet gut 400 Millionen US-Dollar angegeben.

Militärs erschossen einen Demonstranten

Auch für Michel Aoun, der im Bürgerkrieg die libanesischen Streitkräfte befehligte und seit Oktober 2016 als Staatsoberhaupt fungiert, kommen tiefgreifende politische Reformen dementsprechend nicht in Frage. „Wer die Regierung nicht mag, soll auswandern“, hatte der Maronit vergangene Woche noch hochtrabend verkündet. Das Ende Oktober eingereichte Rücktrittsgesuch lehnte Aoun brüsk ab; ebenso wie die Forderung der Demonstranten nach einem neuen Ministerkabinett, das rein aus Technokraten bestünde. „Wo soll ich die bitte finden“, erklärte Aoun in einer Fernsehansprache im libanesischen und hisbollah-nahen Sender Al Mayadeen. „Etwa auf dem Mond?“

Extrem differenziert verhält sich bislang das Militär. Nicht wenige seiner Mitglieder sympathisieren offen mit den Protesten. Doch gerade an sensiblen Stellen unweit der Regierungseinrichtungen kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit Zivilisten. Ein Soldat, der jüngst einen Demonstranten auf offener Straße erschossen hatte, wurde zwischenzeitlich von der Militärpolizei verhaftet.

Mit wenigen Ausnahmen hält auch die radikalschiitische Hisbollah-Miliz, die mit dem Iran ein Interesse am Regierungserhalt besitzt, von gewaltsamen Zusammenstößen Abstand. Doch die Kluft zwischen den umfangreichen Forderungen der Zivilgesellschaft sowie den möglichen Zugeständnissen der Regierung scheint mittlerweile unüberbrückbar. Der Libanon sitzt auf einem Pulverfaß, das jederzeit explodieren könne, wissen Demonstranten wie Hattoum: „Je länger sie uns auf der Straße ignorieren“, erzählt der Medizinstudent resigniert, „um so wahrscheinlicher wird früher oder später jemand zur Gewalt übergehen.“