© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Zu lange im selben Boot gesessen
Das Verhalten der westdeutschen Gewerkschaften im Einigungsprozeß: Wiedervereinigung war für Arbeitnehmervertretungen beiderseits lange Zeit tabu
Curd-Torsten Weick

Der Sprecher des Neuen Forums kannte keine Gnade. „Ihr habt zu lange mit Harry Tisch am Tisch gesessen,“ warf er dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) im Januar 1990 vor. 

Denn noch während Hunderte DDR-Bewohner von Ungarn nach Österreich über die offene grüne Grenze flohen, die Bonner Botschaft in Budapest mit Flüchtlingen überfüllt war, reiste eine Delegation der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) unter der Leitung ihres Vorsitzenden Lorenz Schwegler nach Ost-Berlin. Zum Abschluß des Besuchs am 4. August gab der HBV Pressedienst ein übliches „standarisiertes Kommuniqué“ heraus: „Die Delegation wurde vom Vorsitzenden des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, zu einem freimütigen Informations- und Meinungsaustausch empfangen. Das Wirken der Gewerkschaften für den Frieden und die Tätigkeit in den unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen standen dabei im Mittelpunkt.“ 

Ein halbes Jahr später auf diese Kontakte angesprochen, kommen Vertreter der Gewerkschaftsseite zu folgenden Schlüssen: „Die standarisierten Kommuniqués, die nach solchen Treffen regelmäßig herausgegeben worden seien, hätten die Kontroversen, die durchaus bestanden, eher verdeckt gehalten“, sagte nun bedauernd der Sprecher der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Rainer Hillgärtner. „Ganz ernst genommen habe diese Treffen ohnehin niemand“, zitierte die FAZ einen Funktionär der IG Chemie.

Vor allem der Besuch des FDGB-Vorsitzenden Tisch beim DGB vom 12. bis 15. September 1989 in Stuttgart warf kein gutes Bild auf die westdeutsche Gewerkschaftsführung. Die Medien richteten ihr Hauptaugenmerk schon seit langem auf die Massenflucht, und der FDGB-Vorsitzende, ein „realsozialistischer Panzer aus Leerformeln“ (FAZ), zeigte sich Seite an Seite mit dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit als reformunwillig.

In seinem Bericht für das Politbüro des Zentralkomitees der SED zog Tisch ein negatives Resümee. Der Besuch sei von der „seitens der BRD inszenierten Kampagne gegen die DDR“ negativ beeinflußt worden, erklärte Tisch am 18. September. Vor allem die „Vertreter der bürgerlichen Massenmedien“ hätten „sehr massiv“ versucht, den Aufenthalt der Delegation für ihre „gezielten Attacken gegen die DDR auszunutzen. Deren „zum Teil provokatorische Fragen und Äußerungen“ hätten sich fast ausschließlich auf die „Problematik der illegal über die Volksrepublik Ungarn in die BRD ausgereisten DDR-Bürger“ bezogen. „Sie standen im Gegensatz zu den Bemühungen des FDGB und des DGB, den in den vergangenen Jahren kontinuierlich entwickelten Gedanken und Erfahrungsaustausch konstruktiv fortzusetzen“, lobte Tisch die DGB-Führung. Vor allem Irmgard Blättel (CDU), Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands, hatte es dem FDGB-Chef angetan. Sie habe zu der Frage, was die DDR-Bürger zu erwarten hätten, lapidar geäußert, daß die „Euphorie bald verschwinden werde“. Die Bundesrepublik sei „keine heile Welt“, Dies, so Blättel weiter, würde „leider von vielen nicht begriffen“. In der Bundesrepublik sei sich jeder selbst der Nächste.

Eigenstaatlichkeit der DDR sollte unangetastet bleiben

Kritische Worte fand Tisch für Bundeskanzler Helmut Kohl. Er heizte die von den westdeutschen Massenmedien entfachte Stimmung gegen die weiteren „gutnachbarlichen Entwicklungen“ noch an. Forderungen nach einem „Deutschland von 1937“, die „Nichtrespektierung der DDR-Staatsbürgerschaft“ und die „Anmaßung einer Obhutspflicht der BRD für alle deutschen Bürger“ widersprächen den „geltenden Verträgen und Vereinbarungen“.

Ernst Breit widersprach nicht. „Grenzdiskussionen“ seien „irreal“, erklärte der Schleswig-Holsteiner und betonte, daß Reformen in einigen Staaten Osteuropas hoffen ließen, ein „gemeinsames europäisches Haus“, das sowohl west- wie auch osteuropäische Staaten umfasse, bleibe eine „nicht unerreichbare Vision“. Die Gewerkschaften des DGB seien jederzeit bereit, Reformprozesse zu unterstützen und Kräfte wie Solidarnosc zu unterstützen.

In einer gemeinsamen Presserklärung zum Abschluß des Besuchs betonten beide Seiten, daß sich die Beziehungen zwischen dem DGB und dem FDGB gemäß der Vereinbarung von 1987 positiv entwickelt hätten.

Anfang Oktober jedoch verstärkte sich die Meinung der Gewerkschaften, der DDR-Führung und somit auch dem FDGB Reformen anzuraten. Erwin Ferlemann (SPD), Vorsitzender der IG Medien, mahnte seine Kollegen, alles dafür zu tun, „weil nur dann die Menschen kein Interesse hätten, ihre Heimat, ihre Familie und ihren Besitz zu verlassen. Von Wiedervereinigung sollte man aber auch deshalb nicht reden, weil das die Zerstörung von Erich Honeckers Lebenswerk bedeute und nur dazu beitrage, Reformmöglichkeiten in der DDR zu blockieren.“ Die Vorsitzende der ÖTV, Monika Wulf-Mathies (SPD), ging sogar noch einen Schritt weiter und forderte die Gewerkschaften auf, „den Arbeitnehmerorganisationen in Osteuropa Hilfe beim Ausbau eigenständiger Strukturen und der Entwicklung von Instrumenten zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen zu geben“. Sie spricht von der „politischen Erstarrung der Herrschenden in der DDR“.

Als dann Erich Honecker am 18. Oktober von allen Funktionen in Partei und Staat durch das ZK der SED entbunden wird, sieht dies der stellvertretende Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, als Chance, daß „auch in der DDR eine Öffnung für mehr Demokratie möglich“ sei. Werde diese nicht genutzt, dürften der „Sozialismus und seine Ideale auf deutschem Boden für lange Zeit abgedankt“ haben. Die Debatte über die Wiedervereinigung könne dabei „nur stören“. Stelle sie doch die „Eigenstaatlichkeit und Existenzberechtigung der DDR in Frage“.

Eine Woche später appellierte der Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, auf dem 16. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall an den FDGB, sich aus der „Umklammerung von Staat und Partei zu lösen und Unabhängigkeit sowie Streikrecht zu reklamieren“. Freie und unabhängige Gewerkschaften in der DDR seien Zeichen, die Menschen Hoffnung gäben, daß das Bleiben in Dresden und Leipzig lohnend sei.

In der folgenden Zeit überschlagen sich die Ereignisse in der DDR. Am 8. November 1989 wird der Rücktritt des Politbüros der SED bekanntgegeben. Im neuen Politbüro sitzen Vertreter des Reformflügels. Am Tag darauf wird die Mauer geöffnet, und am 13. November wird Hans Modrow Ministerpräsident der DDR. Er verspricht eine demokratische Erneuerung des politischen Lebens und schlägt eine Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten vor. Auch der FDGB geht den Weg der Erneuerung. Die nach dem Rücktritt von Harry Tisch gewählte Vorsitzende des Bundesvorstands des FDGB, Annelies Kimmel, unternimmt den Versuch, ein anderes Profil zu entwickeln und einen Neuanfang zu beginnen: „Wir müssen heute alles, was die Gewerkschaften in der DDR bisher dargestellt und getan haben, in Frage stellen.“

Vor diesem Hintergrund bietet Steinkühler den Menschen in der DDR erstmalig Hilfe an. „Die IG Metall wolle die Verwirklichung der sozialen Demokratie unterstützen,“ zitiert die FAZ den Gewerkschafter. Eher distanziert geht Steinkühler auch auf die Wiedervereinigungsdebatte ein: „Es möge sein, daß eines Tages das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung sich des Themas Wiedervereinigung bemächtige, aber das sei eine Sache des Volkes und nicht der westdeutschen Bundesregierung.“ Die vierzigjährige Vorherrschaft durch die SED dürfe nicht eingetauscht werden durch die „Vormundschaft der reichen Brüder und Schwestern aus dem Westen“.

„Notfalls wolle man auch mit dem FDGB streiten“

Parallel zur Debatte um die Wiedervereinigung gerät eine weitere wichtige Diskussion in den Gewerkschaften in Bewegung. Mit wem soll gesprochen und verhandelt werden? Mit dem sich erneuernden FDGB als Einheitsgewerkschaft? Mit den einzelnen Industriegewerkschaften? Oder soll man gar selbst in der DDR aktiv werden? War man bisher im gewerkschaftlichen Lager darauf bedacht, sich bloß nicht in die inneren Probleme der DDR einzumischen, sieht man sich doch ab Ende November mehr und mehr dazu gezwungen, selbst die Initiative zu ergreifen. Die IG Bergbau und Energie setzte Ende November 1989 Akzente: „Je eher die SED sich stabilisiert, desto schneller wird die Demokratisierungsbewegung in der DDR erlahmen. Jetzt ist tatkräftige Unterstützung vonnöten, um den Demokratisierungsprozeß in der DDR zu unterstützen und zu beschleunigen.

Dabei nicht der SED und ihren Vorfeldorganisationen zu helfen, liegt auch im Interesse der deutschen Gewerkschaften. Selbstverständlich ist der DGB an freien und unabhängigen Gewerkschaften in der DDR interessiert. Das auch gegenüber dem FDGB und in der Öffentlichkeit unmißverständlich zu äußern, ist keine Bevormundung von außen, sondern praktische gewerkschaftliche Solidarität mit einem vom Kommunismus lange unterdrückten Volk.“ Dann ging es Schlag auf Schlag. Am 6. Dezember 1989 kam es zur Verabschiedung eines Sofortprogrammes zwischen der IG Metall-West und der IG Metall der DDR. Hierbei entschloß sich die IGM-West zur Einrichtung von Informations- und Beratungsbüros in der DDR. Auch andere Einzelgewerkschaften versuchten nun, in der DDR Fuß zu fassen. Der IGM-Vorsitzende Steinkühler versicherte nach Angaben der FAZ den Metallkollegen in der DDR sogar: „Wir werden vor den Unternehmern da sein.“ Auf seiner traditionellen Neujahrs­pressekonferenz (9. Januar 1990) gab der DGB-Vorsitzende Ernst Breit einen Informationsbesuch des FDGB-Vorsitzenden Werner Peplowski bekannt, wies aber parallel dazu ausdrücklich auf folgendes hin: „Der DGB biete allen, die einen gewerkschaftlichen Neuanfang versuchten, seinen Rat an, nicht nur dem FDGB.“ Der DGB biete den Kollegen und Kolleginnen in der DDR seine Erfahrungen an, wolle dort aber nicht „missionieren“, so Breit weiter.

Die Zeit ab Januar 1990 ist für die Gewerkschaften geprägt durch die Suche nach neuen Partnern in der DDR. Der FDGB konnte sich auch nach seinem außerordentlichen Kongreß (31. Januar 1990) nicht als gesellschaftlich akzeptierte Kraft etablieren. Im Gegenteil – es führen viele Gründungskongresse zum Aufbau einer der Bundesrepublik ähnlichen Gewerkschaftslandschaft. Diese Partnerorganisation, die für eine freie und unabhängige Gewerkschaft „notfalls auch in einem harten Konflikt mit dem FDGB“ streiten wolle, werde mit Rat und Tat unterstützt, betonte der IG-Metall-Vorsitzende Steinkühler.

Der FDGB, als die Verkörperung des alten Systems, hatte als Gesprächspartner ausgedient. Im September 1990 löste sich der FDGB auf. Angesprochen auf die Kontakte zum FDGB, entgegnete Breit im Frühjahr 1990 lapidar: „Ein anderes gewerkschaftliches Gegenüber gab es nicht, und gesamtdeutsche Tische waren ein rares Möbel.“ Zum Schluß bleibe als Faktum, daß diese Novemberrevolution „bestenfalls ohne, schlimmstenfalls gegen die Gewerkschaften des Westens und Ostens“ stattgefunden habe. Jahre später nahm Breit im Gespräch mit Hans-Otto Hemmer, Vorsitzender der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Stellung zur Kritik, er habe zu lange mit Harry Tisch am Tisch gesessen. „Hätten wir uns daneben setzen sollen? Wenn du was bewegen willst, mußt du auch mit den Leuten reden, die du nicht unbedingt magst. Wir konnten Harry Tisch nicht von uns aus ablösen. Als er dann weg vom Fenster war, haben wir mit anderen Leuten zu tun gehabt.“

Informationen der Hans-Böckler-Stiftung zur Geschichte der deutschen Gewerkschaften:  www.gewerkschaftsgeschichte.de